Das dritte Leben
Daneben seine Tochter.
Und im gleichen Augenblick kam alles zurück – der Tankwagen, der die Kurve schnitt, auf sie zuraste, sein Versuch auszuweichen, das Quietschen der Reifen auf dem glatten, regennassen Asphalt. Die Windböe, die den Wagen genau in der Sekunde erfaßte, als er zu schlingern begann. Der Sog, der Satz ins Leere, die rasende, glühende Kugel, die auf sie zuschoß –
»Hilde!« Seine Beine trugen ihn nicht. Er kroch auf allen vieren zu ihr, berührte ihr Gesicht. Ihre Lider begannen zu flattern.
»Richard …«, flüsterte sie.
»Ruhig, Hilde, ganz ruhig, wir sind in Sicherheit. Der Unfallwagen wird gleich kommen. Es ist alles noch gutgegangen.«
»Richard – ich muß sterben.«
»Laß doch den Unsinn.« Er legte seine Hand auf ihre heiße Stirn. »Ich hole jemanden, da muß jemand sein …« Er hörte deutlich Stimmengemurmel.
»Laß, Richard«, flüsterte sie. »Ich weiß, ich bin schwer verletzt … Ich kann mich nicht bewegen, mein Kopf … Ich kann nicht richtig sehen, es verschwimmt alles …«
»Du darfst nicht sprechen!«
»Ich muß dir etwas sagen, Richard, etwas sehr Wichtiges.«
»Du sollst nicht sprechen. Ich hole jetzt jemanden!« Er stand auf, drehte sich wankend zur Tür.
»Es ist sehr wichtig, Richard. Es ist – wegen Sabine.«
»Was ist mit Sabine?«
»Wenn ich sterbe …« Plötzlich liefen Tränen über Hildes Wangen.
»Aber das ist – das ist doch nur der Schock«, sagte Richard hilflos. »Du mußt nicht sterben. Du brauchst nicht zu sterben.«
»Wenn ich sterbe, sollst du es wissen«, flüsterte sie.
Er sah sie mit jähem Mißtrauen an. »Was ist mit Sabine? Was ist mit meiner Tochter?«
»Sie ist nicht … sie ist nicht …« Ihre Stimme brach, ihr Mund wurde schmal, ihr Kopf fiel zur Seite.
Richard schluckte. Seine Hände zitterten. Was war mit Sabine? Was – war sie nicht? Er tastete sich zu seiner Tochter hinüber.
Er hörte, daß sich hinter ihm die Tür öffnete, wandte sich um, sah einen hochgewachsenen Mann.
»Ich bin Professor Wiegand«, sagte der schnell. »Wir warten auf die nächstbeste Transportmöglichkeit, um Sie ins Krankenhaus zu schaffen. – Wie fühlen Sie sich?«
»Es geht. Aber, was ist mit meiner Frau – und mit meiner Tochter?«
»Ihre Tochter hat nur oberflächliche Verletzungen. Ihre Frau müssen wir so bald wie möglich operieren.«
»Sie war eben wach.«
Der Professor sah ihn mit einem seltsamen Blick an. »So? Hat sie auch gesprochen?«
»Sie hat wirres Zeug geredet.« Richard Gertner lachte nervös auf.
»Sie schien … Ich weiß nicht, wie – Sie sagte, sie müsse sterben, und vorher wolle sie mir etwas von meiner Tochter erzählen …«
»So – das wollte sie.« Wiegands Stimme klang fast scharf.
»Ja, komisch, was? Was soll mit meiner Tochter –« Richard brach ab, starrte den Professor an. »Sie ist doch nicht – es ist doch nichts Ernstliches mit meiner Tochter, Herr Professor?«
»Nein, ich sagte Ihnen doch schon, nur oberflächliche Verletzungen.« Wiegand beugte sich über das Mädchen. »Wie alt ist sie?«
»Dreiundzwanzig. Sie ist mein einziges Kind. – Wohin werden Sie uns bringen?«
»In meine Klinik nach München. – Es überrascht mich, daß Ihre Frau aus der Bewußtlosigkeit erwacht ist …« Der Arzt wirkte plötzlich sehr angespannt, Richard Gertner sah es genau. Bedrückt folgte er ihm in die Schankstube.
»Wie ist es zu dem Unfall gekommen?« fragte Professor Wiegand, als sie an einem der blankgescheuerten Tische saßen.
»Der Tankwagen hat die Kurve geschnitten«, antwortete Gertner. »Ich wollte ihm ausweichen. Dabei bin ich von einer Windböe von der Straße gedrückt worden. Hoffentlich erwischen sie das Schwein, diesen rücksichtslosen Burschen, der den Tanker gefahren hat!«
»Er ist tot«, sagte Wiegand.
Gertner senkte den Blick. Seine Hände begannen wieder zu zittern.
»Beruhigen Sie sich«, sagte Wiegand. »Sie sind schuldlos.« Er blickte zu seiner Frau hinüber. Irene saß immer noch in dem Sessel unter dem Fenster, kraulte dem Setter den Kopf und blickte mit der Gelassenheit, die ihr eigen war, auf ihre Umgebung.
Einen Moment lang krampfte sich sein Herz zusammen. Sie war schön und begehrenswert, für ihn immer begehrenswert. Nichts, was auch geschah, durfte jemals seine Ehe gefährden.
»Hat Ihre Frau schon Operationen hinter sich?« fragte er Gertner.
»Nein – Hilde ist kerngesund. Nur …« Seine Stimme verlor sich.
»Nur – was?«
Weitere Kostenlose Bücher