Das dunkle Herz Kashas
gern eingehen, wenn ich dadurch ein Gebiet kennenlernen kann, das bisher nur wenige betreten haben.“ Einer Herausforderung ging ich selten aus dem Weg. Außerdem wähnte ich mich mit einem Begleiter der einem Rudel ausgehungerter Bashra befehlen konnte sicher genug.
Der Fremde sah mich schweigend an; er schien in Gedanken versunken. Dann erhob er sich, hielt mir die Hand hin und sagte nur: „Komm.“ Er half mir auf die Füße und vergewisserte sich, dass ich mich ohne seine Hilfe auf den Beinen halten konnte. Dann drehte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort voraus. Ich folgte ihm etwas unsicher. Offenbar hatte er den Entschluss gefasst, meiner Bitte nachzukommen. Ich fragte mich, was ihn dazu bewogen haben mochte. Eine Weile folgte ich ihm schweigend. Ich nutzte die Stille, um meine Lage zu überdenken. Noch vor weniger als einem Mondlauf war jede meiner Handlungen von den Riten und Geboten des Heiligtums bestimmt gewesen – wann ich mich bei Dämmerung erhob, unsere Speisen, der Tagesablauf mit den Kampfübungen, Gebeten, Fürbitten, Unterrichtsstunden und der Arbeit in den Ställen der Opfertiere und wann ich mich zur Ruhe legte. Nun konnte ich selbst entscheiden, was ich tat. Und wohin hatten mich meine ziellosen Wanderungen und meine Neugier geführt? Mitten hinein in das Kernland Kashas; genau in das Gebiet, vor dem meine Lehrmeisterin mich gewarnt hatte... Doch wie konnte ich die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, die geheimnisvollen Landstriche im Kernland an der Seite eines Mannes zu erkunden, der in diesem Gebiet aufgewachsen war und es gewiss kannte, wie kein anderer? Meine Entscheidung war gefallen und ich würde bald wissen, was sie mit sich brachte. Mein schweigsamer Retter ging noch immer einige Schritte vor mir. Er war groß, schlank dabei jedoch breitschultrig; das nachtschwarze Haar hatte er zu einem Zopf geflochten, der ihm bis knapp unter die Schulterblätter reichte. Seine Körperhaltung war ausgesprochen gerade und aufrecht. Seine Schritte waren kraftvoll und energisch. Er trug eine Hose aus einem dunkelbraunen, groben Stoff und ein lockeres Obergewand aus einem ebenso schlichten Stoff noch dunklerer Farbe. Als mir mit Schrecken klar wurde, dass ich nicht einmal nach seinem Namen gefragt oder mich vorgestellt hatte, beschloss ich, ihm zunächst meinen Namen zu sagen. Er reagierte jedoch nicht. Vielleicht hatte er mich nicht gehört? Doch dann drehte er sich zu mir um und sagte: „Wir sind da, Lia.“
Ich sah mich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Es gab nur die dunklen Bäume mit ihren verworrenen Ästen.
Meinem Begleiter waren offenbar weder mein suchender Blick noch meine verwirrte Miene entgangen. Er lächelte ein so offenes Lächeln, dass seine spitzen Eckzähne deutlich zu erkennen waren. „Wenn du in den Nebelwäldern überleben willst, brauchst du Waffen und robuste Kleidung.“ Zwischen den Wurzeln eines Baumes holte er ein Bündel hervor. Er entrollte es. Ein Schwert, ein Bogen und ein schwarzes Gewand aus weichem Stoff kamen zum Vorschein. „Hier, möchtest du es anprobieren? Wenn es dir passt, gehört es dir.“
Vorsichtig strich ich mit einem Finger über das edle Material des Gewandes. „Bist du sicher, dass du mir diese Schätze überlassen möchtest?“
Er lächelte; seine Augen wirkten belustigt und wehmütig zugleich. „Ich habe keine Verwendung für diese Dinge; du hingegen schon. Es wird mir eine Freude sein, wenn sie dir von Nutzen sind. Mein Name ist übrigens Xerus... Ich lasse dich für einen Moment allein. Dann kannst du dich in Ruhe umziehen, ohne dich von mir beobachtet zu fühlen. Wenn ich zurück bin, suchen wir einen meiner Schlafplätze auf – du bist sicher erschöpft.“
Ich stimmte ihm zu, sah ihm nach bis die Bäume und Büsche ihn meinen Blicken entzogen und kleidete mich dann in das herrliche Gewand, das mir etwas zu groß war. Gerade war ich damit beschäftigt, mich mit dem Gewicht des Schwertes vertraut zu machen, da raschelte und knackte es hinter mir. Brechende Äste verrieten mir, dass jemand – oder etwas - sich näherte. Das Schwert kampfbereit in beiden Händen wirbelte ich herum. Eine Kreatur mit zottigem, dichtem Fell, dessen Rotton fast schwarz schien, merkwürdig farblosen Augen und unzähligen kleinen jedoch offenbar messerscharfen Zähnen stürzte auf mich zu. Es musste mir etwa bis zum Knie hinauf reichen. Mit raschen, hohen Sprüngen versuchte es wieder und wieder, mir an die Kehle zu gehen. Ich
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