Das dunkle Herz Kashas
bewusst gewesen, wie sehr mich die Regeln des Heiligtums in meinem Handeln einschränkten. Auch der Fremde kannte kein anderes Leben als das, in welches er geboren worden war. Doch ich hatte immerhin meine Schwestern und Priesterin Tia gehabt, die mein Los mit mir teilten. Wie wäre es mir ohne sie ergangen? „Gibt es viele Kasha im Kernland? Ich dachte, dass es ein weitgehend verlassenes Gebiet ist.“
Wieder antwortete er, ohne zu zögern. „Das ist es. Es gibt etwa drei Dutzend Kasha in der schwarzen Kieswüste. Sie alle unterstehen dem Herrscher des Kernlandes. Dann gibt es noch die Grugandar. Sie sind ein wildes und kämpferisches Volk. Zwischen ihren Dörfern herrscht ein ständiger Krieg. Von den Grugandar gibt es etwa sechzig, verteilt auf fünf verschiedene Dörfer. Ansonsten gibt es hier nur wilde Tiere, Bäume und andere Pflanzen.“
„So wie du sie beschreibst, vermute ich, dass du die Grugandar meidest?“ Mir schien, dass er wenig von diesem mir völlig unbekannten Volk Kashas hielt.
„In der Regel meide ich sowohl die Grugandar als auch die Kasha“, entgegnete der Fremde.
„Das klingt nach einem sehr einsamen Leben...“ Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein mochte, tagein und tagaus durch nebelverhangene Wälder zu streifen, ohne die Möglichkeit, auch nur ein Wort mit einem anderen zu wechseln. Seit ich ohne Gesellschaft den Pfaden Kashas folgte, vermisste ich meine Freundinnen mit jedem Atemzug.
Das Gesicht des Fremden verriet keine Gefühlsregung als er antwortete: „Nicht einsamer als es dein Leben im Moment ist, wenn ich deine Schilderungen richtig verstanden habe. Auch du bist, seit du das Heiligtum eures Gottes verlassen hast, ganz auf dich allein gestellt.“
„Das stimmt leider. Ich würde es ändern, wenn ich könnte. Doch um ehrlich zu sein, habe ich Angst davor, eine der Städte Kashas zu betreten. Einerseits sehne ich mich danach, wieder unter Kasha zu leben. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, dass sie eine Ausgestoßene bei sich aufnehmen werden, die den Pfad ihrer Bestimmung verlassen hat. Die meisten werden die Strafe des Gottes zu sehr fürchten.“ Ich verstummte. Eine Idee begann, in meinem Geist Form anzunehmen. Bisher hatte kaum ein Kasha das Kernland betreten. Es reizte mich, mehr davon zu sehen. Die Nebelwälder übten eine gewisse Faszination auf mich aus. Die bizarr geformten Bäume mit ihren dunklen, an den Rändern ausgefransten Blättern, die wie ein Mardischwanz eingerollten hüfthohen Gräser, der dunkle, steinig-lehmige Boden – sah es überall in den Nebelwäldern so aus? Und war es hier immer nebelgrau? Oder gab es auch sonnige Tage? Wie mochte der Wald dann wirken? Dann die schwarze Kieselwüste, die der Fremde erwähnt hatte – auch sie würde ich zu gerne mit eigenen Augen sehen. Was war das für ein Gebiet, das alle lebenden Wesen an sich band, die innerhalb seiner Grenzen das Licht der Welt erblickten? Wieso war das Kernland verflucht? Wer verfluchte einen ganzen Landstrich? Wer hatte so viel Macht, ein so großes Gebiet mit einem Fluch zu belegen? Was mochte der Grund gewesen sein? Ich wollte mehr – am liebsten alles - über das Kernland Kashas und seine sicherlich abenteuerliche Geschichte erfahren. Neugier war schon immer mein größtes Laster gewesen... Ich konnte meine Finger noch nie aus Dingen herauslassen, die mich nichts angingen.
Die dunkle Stimme des Fremden unterbrach meine Überlegungen. „Soll ich dich bei Sonnenaufgang zurück an die Grenze des Kernlandes bringen? Oder möchtest du lieber sofort aufbrechen?“
Ich zögerte für einige Atemzüge. Dann nahm ich allen Mut zusammen. „Ehrlich gesagt, würde ich lieber noch mehr vom Kernland Kashas sehen. Würde es dir etwas ausmachen, mir die Nebelwälder und die schwarze Kieswüste zu zeigen?“
Seine zweifarbigen Augen sahen mich nachdenklich an. „Du kannst mit Waffen umgehen und dich im Falle eines Angriffs verteidigen?“
Ich nickte, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, obwohl mir das Erlebnis mit den Bashra noch in den Gliedern steckte.
„Du möchtest das Kernland erkunden, obwohl du weißt, dass dich in den Nebelwäldern jeder Schritt in Gefahr bringen kann?“ Noch immer musterte er mich so eindringlich, dass es mich Überwindung kostete, seinem Blick standzuhalten.
Erneut nickte ich. „Wenn ich davon ausgehen kann, dass du mich vor all diesen Gefahren vorwarnen und mich nicht unwissend in mein Verderben laufen lassen wirst, würde ich das Risiko
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