Das dunkle Herz Kashas
die Kraft aufbrachte, dem Bashra den bereits reichlich zerspanten Ast entgegenzustemmen, bereitete ich mich darauf vor, meine Seele den Mächten der Unendlichkeit anzuvertrauen. Würde ich nun nach meinem Tod dafür büßen, dass ich nicht dem mir vorbestimmten Pfad gefolgt war? Würde ich dafür bestraft werden, dass ich die Regeln des Gottes missachtet hatte, dem mein Leben anvertraut worden war? Oder zählte das alles nach dem Tod des Körpers nicht mehr? Gab es überhaupt noch etwas, wenn das Herz nicht mehr schlug? Was würde von mir übrig bleiben, nachdem die Bashra meinen Leib zerfetzt und verschlungen hatten? Mein Geist, der in die Totenwelt wechselte – oder ohne feste Gestalt weiter durch Kasha irrte? Oder gar nichts? Nichts außer den Erinnerungen an mich in den Köpfen und Herzen meiner früheren Schwestern?
Ich schloss die Augen und versuchte, mich auf den Schmerz des tödlichen Bisses vorzubereiten. Doch es kam kein Schmerz. Stattdessen hörte ich eine Stimme, dunkel und bedrohlich wie fernes Donnergrollen, die in befehlendem Tonfall rief: „Genug! Es reicht. Ihr hattet euren Spaß. Lasst von ihr ab und trollt euch.“
Plötzlich war ich vom Gewicht des Bashra befreit. Für einen Moment fragte ich mich, ob ich vielleicht ohnmächtig geworden war und mir meine Rettung nur einbildete. Doch noch immer fühlte ich den harten Waldboden an meinem Rücken, den pochenden Schmerz an der Stelle meines Hinterkopfes, mit dem ich auf den Boden aufgeschlagen war, und die Anspannung jeder Muskelfaser meiner Arme. Also war ich vermutlich weder bewusstlos noch tot. Ich öffnete die Augen. Zu meinem großen Erstaunen sah ich das eben noch so angriffslustige Bashrarudel unterwürfig zu Füßen eines Mannes liegen, der mit in die Hüften gestemmten Fäusten einige Schritte von mir entfernt stand. Auf eine gebieterische Geste des Fremden hin sprangen die Tiere auf und verschwanden im Dunkel des Waldes.
Mein Retter wandte sich zu mir um. Im ersten Augenblick war ich etwas irritiert, in ein braunes und ein blaues Auge zu blicken. Als er lächelte, ließen seine spitzen Eckzähne mich schaudernd an die Reißzähne der Bashra denken. Und doch verspürte ich ihm gegenüber eine solche Dankbarkeit dafür, dass er mich vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, dass ich ihm sogar vertraut hätte, wenn er Feuer gespien und Krallen gehabt hätte. Die Hände, die mir vorsichtig behilflich waren mich aufzusetzen, glichen jedoch eindeutig den meinen. Sein forschender Blick glitt über meinen Körper; er schien ehrlich besorgt. Dennoch war mir seine Aufmerksamkeit unangenehm. Mir war sehr bewusst, in welchem Zustand ich mich befand. Mein Kleid war zerrissen und schmutzig, mein Haar zerzaust und dreckig, meine Haut von der Sonne verbrannt und mit dem Geifer der Bashra besudelt. Zudem wies mich die Farbe meines Gewandes sofort als Ausgestoßene des Heiligtums aus. Was mochte der Fremde über mich denken? Würde er bereuen, dass er mir zu Hilfe gekommen war, wenn ihm klar wurde, wen er gerettet hatte?
„Bist du verletzt?“ Auch die Stimme des Fremden klang besorgt und wohlmeinend. Er ließ sich neben mir auf dem kargen Waldboden nieder.
Vom unsanften Sturz noch etwas benommen, gab ich seine Frage an meinen Körper weiter. Nach einer kurzen Überprüfung meines eigenen körperlichen Zustandes stellte ich fest: „Abgesehen von einigen Schrammen und leichten Kopfschmerzen geht es mir gut. Dank deiner Hilfe. Ich hatte bereits mit meinem Leben abgeschlossen ehe du mich gerettet hast. Ich danke dir! Wie kommt es, dass du einem Rudel wilder Bashra befehlen kannst?“
„Sie haben ihre Gründe, mich zu fürchten“, erwiderte der Fremde ausweichend. Dann erkundigte er sich: „Was führt eine junge Frau wie dich ins Kernland Kashas? Dies ist kein guter Ort für einen einsamen Reisenden. Selbst die Händler meiden ihn, wenn sie in Gruppen mit ihren Waren von Ort zu Ort reisen. Sie nehmen lieber mehrere Tagesreisen in Kauf, um das Kernland zu umrunden, anstatt es zu durchqueren. Wusstest du, dass du bereits die Grenze zum Kernland übertreten hast?“
„Nein“, erwiderte ich. „Ich kenne mich in Kasha nicht gut aus. Bevor ich... aufgebrochen bin, wurde ich davor gewarnt, das Kernland zu betreten. Doch mir war nicht klar, dass mein Weg mich so rasch dorthin führen würde. Ich... Du hast mir das Leben gerettet – ich schätze, ich schulde dir eine ehrliche Auskunft über mich. Ich war eine Novizin des Gottes des Kampfes und der
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