Das Dunkle Muster
schätzte.
Und doch starre ich genau in diesem Moment über den Fluß auf die vielen Leute, die sich am Ufer versammelt haben, und sehe vielleicht genau den, für den ich alle diese Briefe geschrieben habe. Aber das Schiff hält sich jetzt in der Flußmitte auf, und ich bin zu weit von ihnen entfernt, um jemanden ausfindig zu machen, den ich vielleicht erkennen sollte.
Großer Gott – all die Gesichter, die ich in diesen zwanzig Jahren gesehen habe! Millionen! Weit mehr als auf der Erde. Manche davon sahen schon vor mehr als dreihunderttausend oder mehr Jahren in die Welt hinaus. Ohne Zweifel sind einige von ihnen meine Vorfahren, auch unter den Neandertalern. Eine gewisse Zahl von ihnen wurde durch Rassenmischung vom Homo sapiens absorbiert, solltest Du wissen.
Und wenn man die Wanderungen größerer Gruppen während der Vorgeschichte und der aufgeschriebenen Geschichte berücksichtigt, Emigrationswellen, Invasionen, Sklaverei, Kauffahrerei und so weiter nicht außer acht läßt, gehören eine ganze Anzahl dieser Mongolen, Indianer, Australneger und Neger, die ich während unserer Reise am Flußufer gesehen habe, auch zu meinen Vorfahren.
Stell dir das mal vor! Jede Generation unserer Vorfahren verdoppelt, wenn man in der Zeit zurückgeht, ihre Anzahl. Du wurdest 1925 geboren und hattest zwei Eltern, die 1900 zur Welt kamen. (Ja, ich weiß, daß Du 1923 geboren wurdest und Deine Mutter damals vierzig war, aber nehmen wir das nur mal an, um die Sache einfacher zu machen.)
Die Eltern Deiner Eltern wurden um 1875 geboren. Das waren schon vier. Verdopple Deine Vorfahren alle fünfundzwanzig Jahre. Wenn Du bei 1800 ankommst, hast du schon zweiunddreißig Vorfahren. Die meisten davon kannten sich nicht einmal, aber sie waren dazu »ausersehen«, Deine Ur-Ur-Ur-Urgroßeltern zu werden.
Im Jahr 1700 bringst du es schon auf fünfhundertzwölf Vorfahren, 1600 sind es achttausendeinhundertzweiundneunzig, 1500 bereits einhunderteinunddreißigtausendzweiundsiebzig. Im Jahr 1400 kämst Du auf zwei Millionen und siebenundneunzigtausendeinhundertzweiundfünfzig, das wären dann um 1300 schon dreiunddreißig Millionen und fünfhundertvierundfünfzigtausendvierhundertzweiunddreißig. Zu Ende des zwölften Jahrhunderts hättest Du fünfhundertsechsunddreißig Millionen und achthundertsiebzigtausendneunhundertzwölf Vorfahren.
Genau wie ich. Und wie jeder andere. Wenn die Weltbevölkerung im Jahre 1925 etwa bei zwei Milliarden lag (ich weiß nicht mehr, wie viele es genau waren) und Du sie mit der Anzahl deiner Vorfahren aus dem Jahre 1200 multiplizierst, bekommst du mehr als eine Billiarde. Unmöglich? Eben!
Mir fällt gerade ein, daß man die Zahl der Menschen, die im Jahre 1600 lebte, auf fünfhundert Millionen schätzte. Als die Zeitrechnung begann, gab es etwa 140 Millionen Menschen. Der daraus resultierende Schluß ist ganz offensichtlich: Es muß ungeheurer Inzest geherrscht haben, und zwar überall auf der Welt, und die ganze Sache hat schon in der frühesten Vergangenheit angefangen. Nicht zu reden von der Gegenwart. Möglicherweise schon in den Tagen der Menschheitsdämmerung. Das bedeutet also, daß wir beide miteinander verwandt sind und ebenso mit allen anderen Menschen. Wie viele Chinesen und Afrikaner, die 1925 geboren wurden, mögen entfernte Vettern von uns gewesen sein? Eine Menge, würde ich sagen.
Deswegen gehören die Gesichter, die ich an den Ufern erblicke, während ich an ihnen vorbeisegle, meinen Vettern und Kusinen. Hallo, Hang Tschau! Grüß dich, Bulabula! Wie steht’s, Hiawatha? Heil dir, Og, Sohn des Feuers! Aber selbst wenn sie das wüßten, würden sie mir gegenüber nicht freundlicher sein. Oder umgekehrt. Immerhin haben die größten Gemeinheiten und Blutbäder innerhalb von Familien stattgefunden. Bürgerkriege sind die schlimmsten Kriege. Aber nachdem wir alle Vettern sind, sind alle Kriege Bürgerkriege. Und alle sind wir ziemlich unzivilisiert. Die Paradoxie der menschlichen Beziehungen: Ich schieß dir den Arsch ab, Bruder!
Mark Twain hatte recht. Hast Du seine Auszüge aus Captain Stormfields Besuch im Himmel gelesen? Der alte Stormfield zeigte sich mächtig verwundert, als er das Perlentor durchschritt und dahinter so viele dunkle Gesichter zum Vorschein kamen. Wie jeder von uns hellhäutigen Kaukasiern hatte er sich vorgestellt, daß es im Himmel nur so von weißen Gesichtern wimmeln müsse – und er hie und da mal einem gelben, braunen oder schwarzen begegnen würde. Aber es war
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