Das Dunkle
schließlich gar keinen Wind.“
Das Telefon klingelte. Jessica hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt, als Beth auf ihrem Stuhl bereits herumgewirbelt war und nach dem Hörer gegriffen hatte.
„Ist das für mich?“ Mom sah auf ihre Uhr und hängte sich eine Ledertasche über die Schulter. Den Kaffee, den sie sich gerade eingeschenkt hatte, ließ sie stehen.
„Nein, ist für Jessica.“ Beth streckte ihr mit vielsagendem Blick den Hörer hin. „Er sagt, er wäre Hank.“
Jessica rang sich ein dünnes Lächeln ab. „Hank“ war Jonathans Deckname, wenn er sie zu Hause anrief. Jessica war sich ziemlich sicher, dass Beth davon noch nichts wusste, aber ihre kleine Schwester benahm sich immer so, als ob sie doch etwas wüsste, allein aus Prinzip.
„Ich geh im Flur dran. Wiedersehen, Mom.“
Jessica sagte nichts, bis sie das vertraute Klicken hörte, aus dem sich schließen ließ, dass Beth aufgelegt hatte.
Jonathan hörte sich nicht gut an, er klang erkältet. Trotzdem freute sie sich über seinen Anruf. Er erzählte ihr, was in der vergangenen Nacht vorgefallen war, dass der Mann gleich weggefahren war, nachdem die geheime Stunde geendet hatte.
Und dann von der großen Neuigkeit: dass er genau um Mitternacht Fotos geschossen hatte.
„Er weiß also was“, sagte sie leise. „Er muss etwas wissen.“
Es gab eine Pause. „Wird wohl so sein.“
„Also gut, ich werde Rex heute davon erzählen.“ Jessica seufzte. Sie konnte ihrem Vater vorspielen, dass sie zu Rex ging, um zu lernen, trotzdem würde das wahrscheinlich als einzige erlaubte Befreiung von ihrem Hausarrest für diese Woche zählen. Allerdings war alles besser, als den ganzen Tag mit Beth im Haus eingesperrt zu sein, die hier anscheinend immer noch keine Freunde gefunden hatte und ihre Schwester um deren Freunde beneidete.
„Ich komme mit dir“, sagte Jonathan.
„Wirklich?“, rief sie aus, aber ihre Freude verließ sie gleich wieder. Die Tatsache, dass Jonathan bereit war, sich mit der Gesellschaft von Rex Greene abzufinden, zeigte einfach nur, wie ernst die Lage war.
Jetzt hatte Jessica Day menschliche Feinde.
„Glaub mir“, sagte Jonathan, „es wird dir nicht gefallen, wenn du allein zu Rex gehst.“
„Sehr beruhigend.“
„Weißt du, wo er wohnt?“
Wusste sie nicht. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch keinen der anderen Midnighter zu Hause besucht hatte, auch Jonathan nicht. Zwischen den Lebensgefahren in der geheimen Stunde und ihrem unangenehmen Hausarrest hatte sie einfach keine Zeit gehabt. Das normale Leben befand sich immer noch in der Warteschleife – erstarrt.
Jonathan nannte ihr die Adresse, und sie verabredeten sich in einer Stunde.
Als Jessica den Hörer auflegte, schaute sie zum Fenster am Ende des Flurs. Der Tag sah hell und kalt aus. Ihr schauderte, als ihr bewusst wurde, dass der Mann vielleicht jetzt in diesem Moment da draußen war. Als die Darklinge sie verfolgt hatten, war sie wenigstens vierundzwanzig Stunden am Tag sicher gewesen. Aber jetzt war jemand in den hellen Tag eingedrungen.
Sie hatte sich hier in Bixby nur eine Woche sicher gefühlt, bis alles wieder anders geworden war. Sie befand sich erneut im Gefahrenmodus.
Aus der Küche hörte sie die Stimme ihrer Schwester. „Find dich damit ab, Dad. Es gibt keine Corioliskraft, in Oklahoma bläst es einfach.“
10.51 Uhr vormittags
5
Jessica brachte ihr Fahrrad zum Stehen und betrachtete das Haus von Rex Greene, das trostlos an der Straße stand, umgeben von neueren Häusern zu beiden Seiten, mit einem Rasen davor, der nur noch aus braunen Flecken bestand.
Das Anwesen sah aus, als ob es seit Jahren leer stehen würde. Rex’ Vater war aber noch vor einer Stunde ans Telefon gegangen. Er hatte gesagt, Rex sei zu Hause, und dann aufgelegt, ohne ihn zu rufen. Die anderen Midnighter hatten angedeutet, dass mit dem alten Herrn etwas nicht stimmte, aber niemand hatte sich je geäußert, was es war.
Sie sah auf ihre Uhr, die immer noch eine Stunde vorging, da sie in der geheimen Stunde weitergelaufen war, und hoffte, dass Jonathan bald auftauchen würde. Sie wollte den Eigenarten von Rex’ Vater nicht allein gegenübertreten.
„Jessica!“
Sie zuckte zusammen und wirbelte herum, um zu sehen, woher der Ruf kam, bevor ihr bewusst wurde, wer das war.
„Mann, Jonathan. Du hast mich erschreckt.“
Er trat hinter der alten Eiche hervor, die über den größten Teil des Vorgartens einen seltsamen Schatten warf. „Tut mir leid.“ Seine
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