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Das Dunkle

Das Dunkle

Titel: Das Dunkle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Westerfeld
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würde es in der Luft schweben. Seine schweren Stiefel bollerten über die Veranda, die Metallketten um seine Knöchel klimperten und glitzerten in der Sonne. Er hatte Jessica vor ein paar Tagen die Namen seiner Fußketten verraten – Tridecalogisms wie Beständigkeit und Rechtschaffen.
    „Genau, das war ich.“ Die Holzstufen bogen sich etwas unter Jessicas Füßen, als sie zur Veranda hinaufstieg. Ihr fiel auf, dass Jonathan wartete, bis sie oben angekommen war, weil er nicht testen wollte, wie die alten Planken auf ihr gemeinsames Gewicht reagieren würden. Er schien zu humpeln. Was war ihm wirklich auf dem Heimweg passiert?
    „Bitte meinen Sekretär zu entschuldigen“, bemerkte Rex trocken, „er ist in letzter Zeit ein bisschen durcheinander.“
    „Macht nichts. Er hat mir aber gesagt, du wärst zu Hause.
    Also sind wir vorbeigekommen.“
    Rex setzte seine Brille ab und sah Jessica so eindringlich an, dass sie den Blick senken musste. Ohne seine Brille sah Rex die Welt in der normalen Zeit nur verschwommen. Mit den Gesichtern der anderen Midnighter verhielt es sich anders: Die konnte er hervorragend erkennen, tagsüber und in der blauen Zeit.
    „Ich dachte, du hättest noch Hausarrest“, meinte er.
    „Schon, aber einmal pro Woche darf ich Freunde besuchen.“
    Rex setzte sich, dann sah er Jonathan an. „Ich fühle mich geehrt.“
    Jessica ließ sich vorsichtig in einen Armsessel sinken, dessen Stabilität ihr wenig Vertrauen einflößte. Trotz ihres warmen Wollrocks spürte sie die Kälte des Alurahmens, und die braune Rostschicht auf den Armlehnen fühlte sich wie Sandpapier an.
    „Es ist was passiert“, konstatierte Rex. Er wusste, dass sie nicht zum Plaudern vorbeigekommen waren.
    Jessica sah zum nächstgelegenen Fenster hoch. Es stand offen, eisige Böen saugten das ausgeleierte Fliegennetz ein und bliesen es aus wie eine lebende Membran.
    „Wegen ihm musst du dir keine Gedanken machen“, sagte Rex mit einem leisen Lächeln. „Ich habe vor Dad keine Geheimnisse.“

    „Wir haben gestern Nacht etwas gesehen“, sagte Jonathan.
    Das Wort Nacht betonte er, so wie sie alle, wenn sie die geheime Stunde meinten.
    Rex nickte wissend. „Tier, Pflanze oder Darkling?“
    „Mensch“, sagte Jessica. „Er starrt auf der anderen Straßenseite vor meinem Haus, mit einer Kamera, die auf mein Fenster gerichtet war.“
    Rex runzelte die Stirn, seine Stiefel schrammten über den Verandaboden, als er in seinem Gartenstuhl eine gekrümmte Haltung einnahm. Plötzlich sah er genauso aus wie in der Schule: nervös und unentschlossen. Sein großspuriges Auftreten kam nur in der geheimen Stunde zum Vorschein, oder wenn über Midnight diskutiert wurde. Die Erwähnung eines gewöhnlichen Menschen hatte ihn ernüchtert.
    „Ein Stalker vielleicht?“
    „Nicht so normal“, sagte Jonathan.
    Jessica sah ihn von der Seite an. Stalker waren inzwischen normal?
    „Ich habe ihn beobachtet, nachdem die Stunde vorbei war“, fuhr er fort. „Der Typ hat genau um Mitternacht fotografiert.
    Er hatte so eine Kamera mit …“ Er hob eine unsichtbare Kamera in seinen Händen hoch und gab eine Serie von surrenden Lauten von sich. „Du weißt schon, macht etliche Bilder hintereinander. Ich glaube, er wollte wissen, ob sich um Mitternacht … irgendwas verändert.“
    „Ihr habt den Film doch rausgenommen, oder?“
    „Äh …“ Jonathan und Jessica sahen sich an.
    „Nein?“ Rex grinste, setzte seine Brille wieder auf und lehnte sich zurück. Jetzt bewegte er sich wieder auf sicherem Terrain. „Also, das ist nicht weiter schlimm. Vielleicht sieht man auf den Bildern ein bisschen Bewegung. Vermutlich hast du in der geheimen Stunde deine Vorhänge bewegt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Anfang des 20. Jahrhundert haben die Leute etwas probiert, was sie Geisterfotografie nannten. Besonders hier in Bixby. Ist aber eigentlich nichts drauf zu sehen.“
    „Wie kannst du nur so tun, als wäre das keine große Sache?“, rief Jessica. „Der Typ weiß offensichtlich über die blaue Zeit Bescheid!“
    Rex nickte und wippte langsam mit seinem Stuhl. „Das hat’s schon öfter gegeben.“
    „Wie meinst du das?“
    Er stand auf und stapfte zur Fliegentür.
    „Ich will euch was zeigen.“

    Obwohl alle Fenster offen standen, verströmte das Haus einen eigenen Geruch. Eigentlich mehr als einen. Es roch nach alten Leuten, wie im Altersheim bei Chicago, wo Jessicas Großmutter still vor sich hinsiechte. Und dann roch es unverkennbar

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