Das Dunkle
Speicher um, dessen Dimensionen ihr jetzt klar vor Augen standen, und ihr Blick fiel auf die Ecke, in der das Teetablett stand. Natürlich, genau da, wo Madeleine für sich ein Kissen abgelegt hatte …
„Von hier aus lesen Sie Gedanken!“, rief Dess.
„Ich wusste, dass dich dein Sinn für das Offensichtliche nicht verlassen würde.“
Dess ignorierte die bissige Bemerkung, vertiefte sich in das Diagramm und ließ dessen Verhältnisse auf sich wirken. Kein Wunder, dass sie auf dieses Haus einen Giebel gesetzt hatten!
Von diesem Punkt aus öffnete sich die temporale Kontorsion in die blaue Zeit hinaus. Wie ein Einwegspiegel, hinter dem sich Madeleine verbarg, aber beobachten konnte, ohne selbst entdeckt zu werden, und vielleicht sogar …
„He, haben Sie meinen Freunden vorgestern aus der Klemme geholfen? Ihnen was in die Köpfe gepflanzt?“
Madeleine hielt inne, mitten im Einschenken, und schoss ihr einen kalten Blick zu. „Es ließ sich nicht vermeiden.“
Dess hob die Augenbrauen. „Äh, ich glaube, sie waren eigentlich ganz dankbar. Oder wären es, wenn sie wüssten, was sich eigentlich abspielt. Rex und Melissa waren aufgeschmissen, bis Jess aufgetaucht ist.“
„Sehe ich auch so. Komm und setz dich.“ Madeleine fuhr fort, Tee einzuschenken. „Milch, kein Zucker, korrekt?“
„Genau“, sagte Dess und begab sich im Kriechgang zu ihrem Kissen, während ihr der Geruch des Tees den Magen umdrehte. Tolle Gedankenleserin. Madeleine wusste nicht einmal, dass sie Tee nicht ausstehen konnte, sie, die Mutter aller durchgeknallten Tarnkappen hier im Gedankenleserhimmel. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Dess’ Gedanken hier oben ebenfalls geschützt waren. Ein tröstlicher Gedanke.
„Sich so weit rauszuwagen, in der blauen Zeit …“ Madeleine schüttelte den Kopf. „Sie haben mich sicher geschmeckt.“
„Melissa jedenfalls. Jonathan und Jessica auch.“
„Die doch nicht, du Einfaltspinsel. Die Alten draußen in der Wüste.“
„Klar, Entschuldigung.“ Mürrischer und mürrischer.
„Jetzt werden sie nach mir suchen.“ Madeleine sah ihr in die Augen, todernst.
Dess nickte. Kein Wunder, dass sie so üble Laune hatte.
Rex’ und Melissas Stümperei bei Constanza hatte Madeleine mit ihrer Psychodeckung bezahlt. Neunundvierzig Jahre Heimlichkeit zum Teufel, weil sie am Telefon keine eindeutige Nachricht hinterlassen hatten.
„Stimmt, bei den beiden sitzt der Schädel in letzter Zeit nicht besonders fest auf den Schultern“, sagte Dess. „Sie haben miteinander schmutzige Psychosachen getrieben, und seitdem benehmen sie sich total … seltsam.“
Madeleine warf ihr einen Blick zu. „Davon weiß ich natürlich auch. Und zu glauben, es wäre verkehrt, wenn ein Gedankenleser einen anderen Midnighter berührt, ist Quatsch. Es hilft Melissa, die Kontrolle zu behalten.“ Sie schüttelte den Kopf. „Hätte ich sie anleiten können, dann hätten sie schon viel früher damit angefangen.“
Dess runzelte die Stirn, als ihr einfiel, dass Madeleine sie auch berührt hatte, ganz beiläufig, als sie am Dienstagabend gehen wollte. Wenige Sekunden Kontakt zwischen Fingern und Wange hatten ausgereicht, um den geistigen Garagentoröffner, hinter dem sie ihr neues Wissen vor Melissa verbergen konnte, zu installieren.
Dess betrachtete die Milch, die in ihren Tee floss – eine Kollision zweier Galaxien, die eine hell, die andere dunkel. „Sie haben aber niemanden geleitet. Sie haben sich versteckt.“
Sie sah auf, in der Erwartung, wieder eins über die Klappe zu kriegen.
„So ist es“, war alles, was Madeleine dazu zu sagen hatte.
Dess nahm einen Schluck von ihrem Tee: Saurer Geschmack mit einer unangenehmen blumigen Note stürzte auf sie ein. Sie kräuselte ihre Lippen. Warum trank sie dieses Zeug dann doch immer wieder? Verfluchter Psychodruck.
Madeleine rührte in ihrem Tee, klingendes Metall an Porzellan erfüllte den Dachboden. „Sie werden viel mehr Angst vor euch haben, wenn sie davon ausgehen, dass ihr keine Waisen mehr seid. Sie könnten früher gegen euch vorrücken, als ich angenommen hatte.“
„Gegen uns vorrücken“, wiederholte Dess trocken. Rex sagte das auch immer so, als ob es um ein Schachspiel gehen würde.
„Ja, deshalb habe ich dich heute hergerufen.“
„Mich hergerufen …?“ Dess schnaubte verärgert. „Ich bin idiotischerweise davon ausgegangen, ich wäre von allein hierhergekommen.“ Letzte Nacht waren Jessica und Jonathan in der geheimen Stunde mit
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