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Das Echo der Traeume

Das Echo der Traeume

Titel: Das Echo der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Duenas
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Nachrichten aus Madrid. Manchmal lasen wir sie in den örtlichen Zeitungen, die auf Spanisch erschienen, der Democracia, dem Diario de África oder der republikanischen El Porvenir. Manchmal erfuhren wir sie nur aus dem Mund der Zeitungsverkäufer auf dem Zoco Chico, die in verschiedenen Sprachen die Schlagzeilen ausriefen: die der Vedetta di Tangeri auf Italienisch, die vom Journal de Tangier auf Französisch. Hin und wieder erhielt ich einen Brief von meiner Mutter, kurz, schlicht, distanziert. Auf diese Weise erfuhr ich, dass mein Großvater still und leise in seinem Schaukelstuhl gestorben war, und zwischen den Zeilen las ich heraus, dass das bloße Überleben für sie von Tag zu Tag schwieriger wurde.
    Es war auch eine Zeit der Entdeckungen. Ich lernte einige wenige, aber nützliche Sätze in Arabisch. Mein Gehör gewöhnte sich an den Klang fremder Sprachen – Französisch, Englisch – und an andere Akzente meiner eigenen Landessprache wie dem Haketía, jenem Dialekt der sephardischen Juden Marokkos, der aus dem Altspanischen entstanden, aber auch mit arabischen und hebräischen Wörtern durchsetzt ist. Ich lernte, dass es Substanzen gibt, die man raucht, spritzt oder schnupft und die einem die Sinne vernebeln. Dass es Leute gibt, die am Baccaratisch ihre Mutter verspielen, und dass es fleischliche Begierden gibt, die wesentlich mehr Variationen zulassen als diejenige eines Mannes und einer Frau in waagrechter Lage auf einer Matratze. Außerdem erfuhr ich einige Dinge, die in der Welt vor sich gingen, von denen ich mit meiner bescheidenen Schulbildung noch nie gehört hatte: dass es vor vielen Jahren in Europa einen großen Krieg gegeben hatte, dass in Deutschland ein gewisser Hitler an der Macht war, den einige bewunderten und andere fürchteten, und dass sich ein Mensch von einem Tag auf den anderen quasi in Luft auflösen konnte, um seine eigene Haut zu retten, wenn er nicht zu Tode geprügelt werden wollte oder – schlimmer noch – an einem Ort landete, dessen Schrecken seine schlimmsten Albträume übertrafen.
    Und ich entdeckte auf äußerst unangenehme Weise, dass alles, was wir für sicher und beständig halten, jederzeit und ohne ersichtlichen Grund aus den Fugen geraten, eine andere Richtung nehmen, sich ändern kann. Anders als das Wissen über die Vorlieben anderer Menschen oder über europäische Politik eignete ich mir dieses Wissen nicht an, sondern erlebte es am eigenen Leib. Ich erinnere mich weder, wann genau es war, noch was konkret geschah, doch auf einmal begannen sich die Dinge zwischen Ramiro und mir zu ändern.
    Anfangs veränderten sich lediglich die täglichen Abläufe. Unsere Beziehungen zu anderen Leuten wurden enger. Wir schlenderten nicht mehr ziellos durch die Straßen, wir ließen uns nicht mehr träge treiben wie in den ersten Wochen. Mir war jene Zeit lieber, allein mit Ramiro, nur hin und wieder eine lockere Begegnung mit anderen, die fremde Welt um uns herum, doch ich merkte, dass Ramiro sich mit seiner einnehmenden Persönlichkeit inzwischen überall Freunde gemacht hatte. Und was er für mich tat, war gut getan, also ertrug ich widerspruchslos die vielen endlos langen Stunden, die wir in Gesellschaft fremder Menschen verbrachten, obwohl ich meistens kaum verstand, worüber sie sprachen, manchmal weil sie es in einer Sprache taten, die nicht die meine war, manchmal weil sie über Orte und Angelegenheiten diskutierten, von denen ich noch nichts wusste: über Lizenzen, über den Nationalsozialismus, Polen, die Bolschewiken, Visa, Auslieferung. Ramiro konnte sich auf Französisch und Italienisch einigermaßen verständigen, radebrechte in Englisch und kannte einige deutsche Ausdrücke. Er hatte für internationale Unternehmen gearbeitet und Kontakte mit Ausländern gepflegt, und wenn ihm die exakten Wörter fehlten, behalf er sich auf gut Glück mit Gesten, Umschreibungen und Ableitungen. Die Verständigung bereitete ihm nicht das geringste Problem, und so wurde er in kurzer Zeit zu einer gern gesehenen Person in Exilantenkreisen. Es erwies sich als zunehmend schwierig für uns, nicht wenigstens die Gäste an zwei oder drei Tischen zu begrüßen, wenn wir ein Restaurant betraten, uns im Hotel El Minzah an den Tresen stellten oder auf der Terrasse des Café Tingis erschienen, ohne dass irgendeine Gruppe uns aufforderte, uns an ihrer lebhaften Unterhaltung zu beteiligen. Ramiro kam mit ihnen so gut zurecht, als würde er sie schon sein Leben lang kennen, und ich ließ mich

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