Das Echo der Traeume
Besitzern der Academia Pitman stiegen wir im Hotel Continental ab, das oberhalb des Hafens am Rand der Medina lag. Ramiro telegrafierte dem argentinischen Unternehmen unsere neue Adresse, und ich fragte täglich bei den Portiers nach, ob jener Brief gekommen sei, mit dem unsere Zukunft beginnen sollte. Sobald wir die Antwort in Händen hielten, würden wir entscheiden, ob wir in Tanger blieben oder uns im Protektorat niederließen. Während die Post von jenseits des Atlantiks auf sich warten ließ, begannen wir uns in der Stadt unter Exilanten zu bewegen, wie wir beide es waren, eins mit jener Masse an Menschen mit fraglicher Vergangenheit und unvorhersehbarer Zukunft zu werden, die sich mit Leib und Seele der anstrengenden Aufgabe verschrieben hatte, sich zwanglos zu unterhalten, zu trinken, zu tanzen, Vorstellungen im Teatro Cervantes zu besuchen und bis zum frühen Morgen Karten zu spielen – außerstande, in Erfahrung zu bringen, ob ein herrliches Dasein sie erwartete oder ein böses Ende in irgendeinem finsteren Loch, von dem sie noch nicht die geringste Ahnung hatten.
Wir wurden wie sie und tauchten ein in eine Zeit, in der es alles gab außer Stille. Stattdessen zahllose Stunden zärtlicher Liebe in unserem Zimmer im Continental, während sich die weißen Vorhänge in der Meeresbrise leise bewegten, und zügelloser Leidenschaft unter den Flügeln des Ventilators, deren monotones Geräusch sich mit unseren keuchenden Atemzügen vermischte, auf unserer Haut Schweiß mit dem Geschmack nach Salpeter und zerknitterte Laken, die nach und nach zu Boden glitten. Und Tag und Nacht war Leben auf der Straße, wir gingen fortwährend aus. Anfangs nur wir beide, da wir niemanden kannten. Einige Tage, wenn der Ostwind nicht allzu heftig blies, verbrachten wir an dem Strand beim Diplomatenwald, am späten Nachmittag flanierten wir über den erst kürzlich fertiggestellten Boulevard Pasteur, sahen uns im Florida-Kursaal oder im Capitol einen amerikanischen Film an oder setzten uns in eines der Cafés am Zoco Chico, dem pulsierenden Zentrum der Stadt, wo die arabische und die europäische Welt sich auf anmutige und angenehme Weise überlagerten.
Doch unsere Isolation dauerte nur wenige Wochen: Tanger war klein, Ramiro äußerst kontaktfreudig, und alle Welt schien in jenen Tagen ein ungeheuer großes Bedürfnis zu verspüren, miteinander Umgang zu pflegen. Bald begannen wir, uns bekannte Gesichter zu grüßen, Namen zu erfahren und uns zu der einen oder anderen Gruppe zu setzen, wenn wir ein Lokal betraten. Wir aßen mittags und abends im Bretagne, im Roma Park oder in der Brasserie de la Plage und gingen anschließend in die Bar Russo, ins Chatham oder auch ins Detroit an der Place de France oder ins Central mit seinen ungarischen Tänzerinnen, oder wir sahen uns Vorstellungen in der music hall M’salah mit ihrem großen Glaspavillon an, der immer brechend voll war mit Franzosen, Engländern und Spaniern, Juden verschiedener Nationalitäten, Marokkanern, Deutschen und Russen, die zu den Klängen eines phänomenalen Orchesters tanzten, tranken und in einem Durcheinander von Sprachen über die Politik dieses oder jenes Landes diskutierten. Manchmal landeten wir zum Schluss im Haffa direkt am Meer, unter Zeltdächern, und blieben bis zum Morgengrauen. Dort gab es Matten auf dem Boden, auf denen die Leute lässig hingestreckt Kif rauchten und Tee tranken. Reiche Araber, Europäer mit ungewisser Zukunft, die irgendwann vielleicht einmal vermögend gewesen waren. Selten gingen wir in jener diffusen Zeit vor Tagesanbruch zu Bett, wir befanden uns in einem Schwebezustand zwischen gespannter Erwartung, auf eine Nachricht aus Argentinien hoffend, und dem durch ihr Ausbleiben erzwungenen Müßiggang. Wir gewöhnten uns ein, spazierten durch den neuen europäischen Teil und durchstreiften die Gassen des arabischen Teils, lebten inmitten dieses bunten Gemischs aus Menschen, die es hierher verschlagen hatte, und den Einheimischen. Mit den perlenbehängten Damen mit wachsbleichem Teint unter breiten Strohhüten, die ihre ondulierten Pudel ausführten, und den dunkelhäutigen Barbieren, die mit ihrem antiquierten Handwerkszeug unter freiem Himmel arbeiteten. Mit den Straßenverkäufern, die Pomaden und Salben feilboten, den stets makellos gekleideten Diplomaten, den Ziegenherden und den flüchtigen Silhouetten der scheuen, fast gesichtslosen muslimischen Frauen in ihren Kaftanen und dem Haik, dem weißen Überwurf.
Täglich kamen
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