Das Echo der Traeume
mir bislang die notwendige Inspiration verschafft, um mit meinem Vorhaben voranzukommen. Ich wusste haargenau, wie eine gute Maßschneiderei, die etwas auf sich hielt, funktionierte, ich konnte Maß nehmen, zuschneiden, plissieren, Ärmel ein- und Revers ansetzen, aber sosehr ich auch in meinem Katalog der Fertigkeiten und Erinnerungen kramte, ich fand keine, die mir als Referenz für das Schreiben einer Rechnung hätte dienen können. Als ich noch bei Doña Manuela arbeitete, hatte ich oft Rechnungen in der Hand gehabt, denn ich musste sie den Kundinnen zustellen. Manchmal kam ich sogar mit dem Rechnungsbetrag in der Tasche zurück. Doch niemals war ich auf die Idee gekommen, einen dieser Umschläge aufzumachen, um mir den Inhalt genau anzusehen.
Mein erster Gedanke war, mich wie immer an Candelaria zu wenden, doch dann sah ich, dass es draußen schon stockfinster war, der Wind einen immer stärker werdenden Regen herrisch vor sich hertrieb und unerbittlich Blitze vom Meer hereinzogen. Bei diesem Wetter zu Fuß zur Pension zu laufen, kam mir vor wie ein besonders abschüssiger Weg in Richtung Hölle. Also beschloss ich, das Problem allein zu lösen. Ich holte mir Papier und Bleistift, setzte mich an den Küchentisch und nahm die Aufgabe in Angriff. Eineinhalb Stunden später war ich noch keinen Schritt weitergekommen. Zig Blätter Papier lagen zerknüllt um mich verstreut, den Bleistift hatte ich schon zum fünften Mal mit einem Messer gespitzt, doch ich wusste immer noch nicht, wie viel die fünfundfünfzig duros beziehungsweise zweihundertfünfundsiebzig Peseten, die ich meiner ersten Kundin berechnen wollte, in Reichsmark ausmachten. Und dann, mitten in der Nacht, prasselte etwas mit voller Wucht gegen das Fenster. Vor Schreck sprang ich so hastig auf, dass mein Stuhl umstürzte. Ich sah sofort, dass in der Küche gegenüber noch Licht brannte, und trotz des starken Regens, trotz der späten Stunde erspähte ich dort die rundliche Gestalt meines Nachbarn Félix mit seiner Brille und dem schütteren Kraushaar, wie er den Arm hob, um eine zweite Handvoll Mandeln gegen mein Fenster zu schleudern. Ich öffnete es, um zornig eine Erklärung für sein seltsames Benehmen zu verlangen, doch ehe ich ein Wort sagen konnte, überwand seine Stimme bereits die Kluft, die uns trennte. Der auf die Kacheln des Lichthofs trommelnde Regen übertönte fast seine Stimme, aber seine Botschaft kam dennoch unmissverständlich bei mir an.
» Ich suche Unterschlupf. Ich mag keine Gewitter.«
Ich hätte ihn fragen können, ob er nicht ganz bei Trost sei. Ich hätte sagen können, dass er mich fast zu Tode erschreckt hatte, ihn anbrüllen, beschimpfen und einfach wieder das Fenster zumachen können. Doch ich tat nichts von alledem, denn im selben Moment ging mir ein Licht auf – vielleicht konnte mir dieser sonderbare Hilferuf ja sogar von Nutzen sein.
» Du kannst kommen, wenn du mir hilfst«, rief ich hinüber und duzte ihn gedankenlos.
» Geh die Tür öffnen, ich bin in einer Sekunde da.«
Natürlich wusste mein Nachbar, dass zweihundertfünfundsiebzig Peseten zum gegenwärtigen Kurs zwölf Reichsmark fünfzig entsprachen. Und natürlich war ihm auch bekannt, dass man eine anständige Rechnung nicht mit Bleistift auf einem Blatt billigen Papiers ausschreibt. Also ging er noch einmal in seine Wohnung hinüber und kehrte unverzüglich mit mehreren Bogen elfenbeinfarbenen englischen Papiers und einem Federhalter von Waterman zurück, mit dem sich in dunkelvioletter Tinte die schönste Schönschrift schreiben ließ. Dann entfaltete er sein ganzes Geschick – und das war nicht gerade wenig – und sein nicht minder großes künstlerisches Talent, und in nicht einmal einer halben Stunde hatte er im Pyjama und unter Donnergrollen nicht nur die eleganteste Rechnung verfasst, die sich die europäischen Schneiderinnen in ganz Nordafrika hätten träumen lassen, sondern meinem Atelier auch noch einen Namen gegeben: Chez Sirah war geboren.
Félix Aranda war ein eigenartiger Mann. Witzig, fantasievoll und gebildet, ja. Und neugierig und ein kleiner Schnüffler. Eine Spur exzentrisch und auch ein bisschen impertinent. Die nächtliche Wanderung von seiner zu meiner Wohnung wurde zu einem festen Ritual. Nicht jeden Tag, aber doch regelmäßig. Manchmal vergingen drei oder vier Tage, ohne dass wir uns sahen, manchmal kam er fünf Abende hintereinander. Oder sechs. Oder sogar sieben. Die Häufigkeit seiner Besuche hing von etwas ab, das nichts
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