Das Echo der Traeume
entledigt, vermutete ich. Geradeheraus erzählte Félix es mir niemals, aber er legte mir eine Spur wie einst Hänsel und Gretel. Ich brauchte ihr nur zu folgen und dann meine Schlüsse daraus zu ziehen. Den verstorbenen Don Nicasio hatte vermutlich seine Gattin auf dem Gewissen, so wie vielleicht Félix in irgendeiner dunklen Nacht seine Mutter beseitigen würde.
Schwer zu sagen, wie lange er diese täglichen Demütigungen noch ertragen hätte, wäre ihm nicht unversehens eine Lösung in den Schoß gefallen. Ein Mensch, der sich für die effiziente Erledigung einer Formalität erkenntlich zeigen wollte, brachte ihm eine Dauerwurst und zwei Flaschen Anislikör als Geschenk. » Lass uns probieren, Mamá, komm, ein Gläschen, nur um die Lippen zu befeuchten.« Doch nicht nur den Lippen von Doña Encarna sagte der zuckersüße Likör zu, sondern auch ihrer Zunge, ihrem Gaumen, ihrer Kehle und ihrem Verdauungstrakt, und von dort stieg ihr der Alkohol in den Kopf. An jenem schnapstrunkenen Abend entdeckte Félix plötzlich die Lösung all seiner Probleme. Seitdem war die Flasche Anislikör seine große Verbündete, seine Retterin in der Not und der Ausweg, der ihm den Zugang zur dritten Dimension seines Lebens eröffnete. Von da an war er nicht mehr nur der vorbildliche Sohn in der Öffentlichkeit und ein ordinärer Fußabtreter in den eigenen vier Wänden. Von jenem Tag an verwandelte er sich auch in einen Nachtschwärmer ohne jede Hemmung, in einen Flüchtigen auf der Suche nach dem Sauerstoff, der ihm zu Hause fehlte.
» Noch ein Schlückchen Anis del Mono, Mamá?«, fragte er unweigerlich nach dem Abendessen.
» Na gut, komm, schenk mir ein Gläschen ein. Um mir die Kehle zu spülen. Ich glaube, ich habe mich heute Abend in der Kirche erkältet.«
Das zähflüssige Getränk, im Glas vier Finger hoch, rann rasch Doña Encarnas Rachen hinab.
» Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dich nicht warm genug anziehst, Mamá«, fuhr Félix liebevoll fort, während er ihr das Glas bis zum Rand nachfüllte. » Los, hinunter damit, du wirst sehen, wie schnell dir warm wird.« Zehn Minuten und drei kräftige Schlucke Anislikör später schnarchte Doña Encarna halb bewusstlos vor sich hin, und ihr Sohn machte sich eilends und frei wie ein Vogel auf den Weg zu heruntergekommenen Behausungen, um sich mit Leuten zu treffen, die er bei Tag und in Gegenwart seiner Mutter nicht einmal zu grüßen gewagt hätte.
Seit meiner Ankunft in der Calle Sidi Mandri und besagter Unwetternacht wurde auch meine Wohnung zu einem ständigen Zufluchtsort für ihn. Bei mir fand er sich ein, um in Zeitschriften zu blättern, Ideen beizusteuern, Entwürfe zu zeichnen und mir geistreich von allen möglichen Dingen zu erzählen, von meinen Kundinnen und all jenen Menschen, die tagtäglich meinen Weg kreuzten und die ich dennoch nicht kannte. Und so wurde ich Abend für Abend über Tetuán und seine Bewohner informiert: woher und weswegen all diese Familien in dieses fremde Land gekommen waren, wer die Señoras waren, für die ich nähte, wer Einfluss besaß, wer Geld hatte, wer was machte, wozu, wann und wie.
Doch Doña Encarnas Neigung, zur Flasche zu greifen, brachte nicht immer die gewünschte narkotische Wirkung, und dann liefen die Dinge leider aus dem Ruder. Manchmal führte die Formel » Ich fülle dich mit Likör ab, und dafür lässt du mich in Ruhe« nicht zu dem erwarteten Erfolg. Und wenn der Anisette nicht schaffte, sie außer Gefecht zu setzen, dann führte der Rausch zu wüsten Ausfällen. Jene Abende waren die schlimmsten, denn dann gelangte die Mutter nicht in den Zustand einer stummen Mumie, sondern verwandelte sich in einen Donnergott, der mit seinem Gebrüll selbst den charakterfestesten Menschen vernichtete. Sargnagel, Witzfigur, Schuft, Arschloch waren noch die freundlichsten Ausdrücke, die sie ihm entgegenschleuderte. Er, der wusste, dass sie sich am nächsten Morgen in ihrem verkaterten Zustand an nichts erinnern würde, revanchierte sich mit der Treffsicherheit eines Messerwerfers mit nicht weniger unanständigen Beleidigungen. Widerliche alte Hexe, Schnapsdrossel, Dreckstück. Was für ein Skandal, Herr im Himmel, wenn die Bekannten, die sie in der Konditorei, beim Apotheker und in der Kirche trafen, sie gehört hätten! Am folgenden Tag indes schien das Vergessen mit aller Wucht über sie gekommen zu sein, und beim Spaziergang zur Abendandacht herrschte wieder eine Herzlichkeit zwischen ihnen, als hätte es nie die
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