Das Echo der Traeume
mit uns zu tun hatte – davon nämlich, wie betrunken seine Mutter war. Was für eine seltsame Beziehung, was für ein düsteres Familienleben wurde in der Wohnung gegenüber geführt. Seit dem Tod des Gatten und Vaters vor einigen Jahren lebten Félix und Doña Encarna scheinbar in schönster Harmonie zusammen. Gemeinsam machten sie jeden Abend zwischen sechs und sieben Uhr einen Spaziergang, gemeinsam wohnten sie Messen und Andachten bei. Ihre Medikamente holten sie beim Apotheker Benatar, sie grüßten ihnen bekannte Personen höflich und gönnten sich nachmittags im La Campana Blätterteiggebäck. Er immer um sie besorgt, der liebevolle, ganz auf sie eingestellte Beschützer: Pass auf, Mamá, dass du nicht stolperst, hier entlang, Mamá, sachte, sachte. Und sie ließ voller Stolz alle Welt wissen, wie außerordentlich begabt ihr Sohn doch war: Mein Félix sagt, mein Félix macht, mein Félix meint, ach, mein Félix, was würde ich nur ohne ihn tun.
Doch der zuvorkommende Sprössling und die alte Glucke verwandelten sich in zwei kleine Ungeheuer, sobald sie unter sich waren. Kaum hatten sie die Schwelle zu ihrer Wohnung überschritten, zog die Frau Mamá sich die Uniform der Tyrannin über und griff zu ihrer unsichtbaren Peitsche, um den Sohn bis zum Äußersten zu demütigen. Kratz mich am Bein, Félix, mich juckt es an der Wade. Nicht da, weiter oben, du bist doch zu nichts zu gebrauchen. Warum habe ich eine Missgeburt wie dich zur Welt bringen müssen? Zieh die Tischdecke zurecht, sie hängt schief. Nicht so, jetzt ist es noch schlimmer. Leg sie wieder so hin wie zuvor, du verdirbst wirklich alles, was du anfängst, du Holzkopf. Warum habe ich dich nicht gleich nach der Geburt im Findelhaus abgegeben? Schau mir doch mal in den Mund, ich glaube, mein Zahnfleisch ist wieder entzündet. Hol mir den Melissengeist, der hilft gegen meine Blähungen. Reib mir den Rücken mit Kampfer ein. Mach mir die Hornhaut da weg, schneid mir die Zehennägel, Vorsicht, du Tölpel, du schneidest mir ja den ganzen Zeh ab. Gib mir ein Taschentuch, ich will meinen Schleim loswerden. Bring mir ein Wärmepflaster Sor Virginia für meinen Hexenschuss. Wasch mir den Kopf und dreh mir die Haare auf, aber mit ein bisschen Gefühl, du Grobian, soll ich vielleicht kahlköpfig werden?
Und so führte Félix von klein auf ein Doppelleben mit zwei ebenso ungleichen wie schmerzvollen Seiten. Als der Vater starb, war es von heute auf morgen vorbei mit dem Vergöttertwerden: Mitten im Wachstum wurde er, der in der Öffentlichkeit Objekt aller Zärtlichkeit und Zuneigung gewesen war, im Privaten zum Ziel aller Wut und Frustration der Mutter, ohne dass ein Außenstehender es je vermutet hätte. Wie mit der Sense wurden all seine Hoffnungen und Träume einfach niedergemäht, zunichtegemacht: von Tetuán fortgehen und in Sevilla oder Madrid Kunst studieren, sich über seine verworrene Sexualität klar werden und Leute kennenlernen, die wie er waren, geistreich, ziemlich unkonventionell, Menschen, die sich danach sehnten, sich frei entfalten zu können. Stattdessen sah er sich gezwungen, sein Leben unter der Fuchtel von Doña Encarna zu verbringen. Er machte das Abitur am Colegio del Pilar bei den Marianisten und erhielt hervorragende Noten, die ihm aber nichts nützten, denn seine Mutter hatte ihren Stand als vom Schicksal schwer geprüfte Witwe genutzt, um ihm einen mausgrauen Verwaltungsposten zu verschaffen. Im Versorgungsamt der Stadt Formulare abstempeln: die beste aller Arbeiten, um auch dem größten Genie jede Kreativität auszutreiben und ihn an der Leine zu halten wie einen Hund – hier hast du ein schönes Stück saftiges Fleisch, hier hast du einen Fußtritt, dass dir der Bauch aufplatzt.
Er ertrug diese Übergriffe mit mönchischer Geduld. Und so behielten sie über die Jahre hinweg das Missverhältnis unverändert bei – sie tyrannisch und er sanft, duldsam, sein Los ertragend. Schwer zu sagen, was Félix’ Mutter in ihm suchte, warum sie ihn so behandelte, was sie von ihrem Sohn anderes wollte als das, was er ihr ohnehin immer bereit war zu geben. Liebe, Respekt, Mitleid? Nein. Das alles bekam sie von ihm ohne jede Anstrengung, er knauserte nicht mit seiner Zuneigung, der gute Félix, keineswegs. Doña Encarna wollte mehr. Ergebenheit, bedingungslose Verfügbarkeit, Beachtung ihrer absurdesten Launen. Gehorsam, Unterwerfung. Genau das, was ihr Gatte zu Lebzeiten von ihr verlangt hatte. Deshalb hatte sie sich wohl eines Tages seiner
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