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Das Echo Labyrinth 01 - Der Fremdling

Titel: Das Echo Labyrinth 01 - Der Fremdling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frei
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wie es sich gehört - in reifem Alter geschlossen, aber längst nicht alle heiraten. Hier heißt es nicht, die Familie sei für jeden das Beste, und im Alter allein zu sein, gilt nicht als Zeichen eines misslungenen Lebens. Auch das Gegenteil allerdings behauptet hier niemand. Die öffentliche Meinung schweigt dazu - also ist es jedem selbst überlassen, wie er sein Leben gestalten will.
    Vor kurzem hatte ich von Melifaro, den meine Unwissenheit in Verlegenheit gebracht hatte, genaue Informationen über den Stadtteil Rendezvous bekommen, die er mir mit der Bemerkung überreicht hatte, ich sei und bleibe zwar ein Barbar, aber gewisse elementare Dinge müsse ich dennoch erfahren.
    Was ich aus Melifaros Unterlagen über die hiesige Lebensweise erfuhr, überraschte mich. Trotz meines fast panischen Wunsches, Ordnung in mein Leben zu bringen, bezweifelte ich, schon zu einem Besuch dieses Stadtteils bereit zu sein.
    Das möchte ich Ihnen gern näher erklären. Wenn Sie von einer Party in Gesellschaft eines Mädchens nach Hause kommen, das Sie noch nicht besonders gut kennen, und wenn Ihnen wie dem Mädchen klar ist, wie die Nacht enden wird, dann ist das natürlich nicht das große Liebesabenteuer, von dem Sie in Ihrer Jugend geträumt haben. Immerhin aber geschieht alles einvernehmlich: Zwei Erwachsene treffen eine mehr oder weniger klare Entscheidung. Ob sie nur eine Nacht oder länger Bestand hat, hängt damit zusammen, ob zwei Körper eine dauerhaftere Verbindung eingehen wollen.
    In Echo läuft die Anbahnung von Beziehungen ganz anders.
    Die Besucher des Stadtteils Rendezvous sind Suchende oder Wartende. Jeder entscheidet jedes Mal selbst, zu welcher Gruppe er gehören will. Im einen Teil des Viertels stehen Häuser, die suchende Männer und wartende Frauen ansteuern; im anderen Teil sammeln sich suchende Frauen und wartende Männer. Vor dem Eingang hängen keine Informationen, weil man davon ausgeht, alle wüssten sowieso, warum und wohin sie gekommen sind.
    Kaum haben die Suchenden das Haus ihrer Wahl betreten, müssen sie an einer seltsamen Lotterie'teilnehmen und aus einer Vase eine nummerierte Kugel ziehen. Allerdings gibt es auch Kugeln, auf denen keine Nummer steht. Wer eine solche zieht, muss sich damit abfinden, dass das Schicksal ihm an diesem Abend ein Liebestreffen verwehrt hat. In so einem Fall muss der Besucher sich verabschieden und nach Hause gehen. Theoretisch kann so ein Glückloser die Prozedur im nächsten Haus wiederholen, doch das gilt als schreiende Missachtung des Fatums, und gegen das Schicksal mag sich kaum einer auflehnen.
    Nachdem der Suchende seine Kugel gezogen hat, geht er ins Gästezimmer, also dorthin, wo die Wartenden sich aufhalten. Dort hat der Suchende die Anwesenden laut abzuzählen, bis er an die Person gerät, deren Nummer auf seiner Kugel steht.
    Übrigens kontrolliert niemand diese Prozedur. Also ist es durchaus möglich, dabei zu mogeln. Aber nicht einmal Melifaro hat begriffen, wie ich auf den Gedanken kommen konnte, das Verfahren lade zum Schummeln ein. Ich hatte den Eindruck, er habe in seinem Leben noch nichts Abwegigeres gehört als diesen Verdacht. Aus seiner Reaktion schloss ich, dass sich - was den Stadtteil Rendezvous anging - noch niemand mit dem Problem des Mogelns beschäftigt hatte. In Echo denken alle, Fortuna sei eine äußerst launische Göttin, mit der nicht zu spaßen ist.
    Frischgebackene Liebespaare verlassen den Stadtteil, gehen nach Hause oder in ein Gasthaus und versuchen, aus ihrer zufälligen Begegnung möglichst viel Vergnügen zu schlagen. Und am nächsten Morgen trennen sie sich für immer. Das ist eine unerlässliche Bedingung ihrer Begegnung.
    Soweit ich begriffen habe, kontrolliert niemand, ob die Paare sich am Morgen tatsächlich für immer trennen. Und niemand bestraft die, die sich dieser Bedingung verweigern. Meinen Vorschlag, man könne die zufällige Begegnung im Stadtteil Rendezvous ja in Eigeninitiative aufs Herrlichste verlängern, quittierte Melifaro mit einer Grimasse erschrockener Ablehnung - als hätte ich von den Vorzügen sodomitischer Nekrophilie geschwärmt und ihm freundlicherweise vorgeschlagen, mich zum nächsten Tierfriedhof zu begleiten.
    »Mach nie solche Witze«-, riet er mir ernst. »Weder bei Fremden noch bei Leuten, die du gut kennst.«
    Ich wunderte mich, warum mein Freund plötzlich die beleidigte Unschuld spielte, tat seine Vorurteile ab und schusterte mir eine hübsch poetische Erklärung für das ganze Ritual

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