Das echte Log des Phileas Fogg
Wasser pünktlich um 9.37 Uhr. Er stellte die Schüssel neben das Rasierbecken, und Mr. Fogg nahm das Thermometer aus dem Wasser. Es zeigte 29°C an. Für diese Unzulänglichkeit gab es keine Entschuldigung. Forster brauchte nur wenigen Pflichten nachzugehen, doch diese mußten korrekt und zum korrekten Zeitpunkt erfüllt werden. Er hatte seinen Herrn pünktlich um 8.00 Uhr zu wecken. 23 Minuten später mußte er mit einem Tablett mit Toast und Tee zur Stelle sein. Verne vermerkt nicht, ob die Bestandteile des Frühstücks eine bestimmte Temperatur haben mußten, aber wir dürfen vermuten, daß dies der Fall war. 10 Minuten darauf war das Tablett abzuräumen. Damit blieben nur das Rasieren um 9.37 Uhr und das Ankleiden um 9.40 Uhr noch zu erledigen.
Um 11.30 Uhr, keine Sekunde früher oder später, pflegte Mr. Fogg das Haus durch die Haustür zu verlassen und durch eben diese Tür zurückzukehren, sobald Londons Uhren Mitternacht schlugen. Zwischen seinem Hinausgehen und seiner Rückkunft hatte der Diener wenig zu tun. Er mußte das Haus ein wenig säubern, dafür sorgen, daß einmal wöchentlich eine Putzfrau kam, sicherstellen, daß die Kleidung seines Herrn sich stets in gereinigtem und gebügeltem Zustand befand, die Betten gemacht waren, ein paar Rechnungen begleichen usw. Abgesehen von den unmenschlichen Anforderungen des Arbeitsplans war James Forster sein eigener Herr.
Oder nicht?
Warum, zum Beispiel, brachte Forster ein um 1°C niedriger als verlangt temperiertes Rasierwasser? Er hätte lediglich einen Blick auf das Thermometer zu werfen brauchen. Warum tat er es nicht, obschon er genau wußte, welche Bedeutung Fogg der korrekten Temperatur beimaß?
Die Antwort lautet, daß er die Temperatur sehr wohl kontrollierte. Mr. Forster hatte in der Küche gewartet, bis die Temperatur des Wassers auf 30°C gesunken war. Er wußte sehr gut, daß die Temperatur unter den verlangten Wert gesunken sein würde, wenn er das in der 3. Etage gelegene Bad betrat. Auch zog er kein verstörtes Gesicht, als Fogg ihm mitteilte, daß er entlassen sei.
Fogg hätte verärgert wirken müssen, da der Metronom seines Lebens aus dem Takt gebracht worden war. Alles war in Unordnung geraten. Zweifellos würden nicht gerade viele Menschen sich durch einen Temperaturunterschied von 1°C ihres Rasierwassers gestört fühlen; Mr. Fogg jedoch erachtete dies als einen ernsten Zwischenfall. Allerdings verzog er keine Miene; nur seine Brauen rutschten mit einer Entschlossenheit aufwärts wie die Schwingen eines Vogels. Dann sanken sie wieder herab, und er erklärte mit frostiger, aber keineswegs zorniger Stimme: »Das Wasser ist kühler, als ich wünsche. Sie wissen doch, 30 0 C. Dieses Wasser hat 29°C. Bitte stellen Sie mir zwischen 11.00 Uhr und 11.30 Uhr Ihren Nachfolger vor.«
»Jawohl, Sir«, erwiderte Forster. »Darf ich um ein Zeugnis bitten?«
»Bis zu diesem Moment haben Sie sich zufriedenstellend verhalten«, sagte Mr. Fogg. »Ich werde das in Ihrem Zeugnis unmißverständlich zum Ausdruck bringen. Doch muß ich auch genau vermerken, aus welchem Grund ich mich zu Ihrer Entlassung gezwungen sah.«
Mr. Forster gab keine Antwort, aber sicherlich dachte er, daß wohl kein künftiger Dienstherr 1°C als ernsthafte oder auch nur erwähnenswerte Sache betrachten würde.
Nach Beendigung des Wortwechsels lächelte keiner der beiden Männer, obwohl man nur schwer begreifen kann, wie sie sich dessen zu enthalten vermochten. Doch obschon sie allein waren und niemand sie gesehen oder gehört haben konnte, gestatteten sie sich keine Unvorsichtigkeit. Hätte es im Haus verborgene Kameras oder elektronische Abhörgeräte gegeben, nichts Ungewöhnliches wäre zu verzeichnen gewesen. Natürlich existierten derartige Apparaturen im Jahre 1872 noch nicht.
Oder doch?
Das sehr leise Surren, welches man im Haus hören konnte, wenn die beiden Männer schwiegen, worauf war es zurückzuführen? Und der große Spiegel in Mr. Foggs Schlafgemach – tarnte er den Zugang zu einem Raum mit Gerätschaften, die man auch im Jahre 1976 noch als technisch weit überlegen einstufen würde?
Ob das Haus unter Beobachtung stand oder nicht, sicher isteins: daß Fogg und Forster sich keine Äußerungen oder Handlungen erlaubten, die von Leuten ihres Standes nicht zu erwarten waren oder die in bestimmten Situationen ungewöhnlich gewirkt hätten. Nichts deutete darauf hin, daß der Temperaturunterschied von 1°C ein Signal sein könne, den Diener zu entlassen und
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