Rescue me - Ganz nah am Abgrund
Eins
Fertig!
Erleichtert warf Ryan Donahue das kleine Stück Zeichenkohle auf die Tischplatte, wischte sich kurz die schwarz gewordenen Finger an der Jeans ab und betrachtete sein Bild.
„Mrs. Bowman, ich bin fertig. Wollen Sie es sich ansehen?“, fragte er in die Stille des Raumes hinein. Als er keine Antwort erhielt, sah er verwundert von seinem Block auf. Er war allein. Mutterseelenallein. Alle waren verschwunden. Für einen kurzen Augenblick dachte er daran, dass alle von Außerirdischen geholt worden sein könnten. Doch dann wurde ihm klar, was passiert war.
Er war so vertieft in seine Arbeit gewesen, er hatte gar nicht bemerkt, dass die Schule längst aus war. Sogar Mrs. Bowmann, die Kunstlehrerin, war gegangen. Er meinte, sich vage daran zu erinnern, wie sie ihre Bildermappe zusammengeräumt und ihn aufgefordert hatte, auch endlich nach Hause zu gehen. Dann war sie auf ihren hochhackigen Schuhen davongetrippelt. Seit dem war über eine Stunde vergangen, wie ein Blick auf die Wanduhr verriet.
Im Stillen schimpfte er sich einen Idioten. Hatte er wirklich unbedingt bleiben müssen? Unbedingt diese Zeichnung fertigstellen wollen?
Ja. Er hatte. Es war wie ein Rausch. Er malte hier eine Linie, dort noch eine Schraffierung, einen Schatten, der ihm nicht geheimnisvoll genug erschien – er fand kein Ende.
Langsam sammelte er seine Malutensilien zusammen. Jetzt saß er hier fest. Er wusste, er hatte seine Chance verpasst, mit heiler Haut davon zu kommen. Der Plan sah vor, sich im Schutz der anderen Schüler still und leise davon zumachen. Nun hatten seine beiden Peiniger leichtes Spiel, präsentierte er sich ja förmlich auf dem Silbertablett. Er war so ein Idiot!
Für einen Moment war er versucht, seine Mom anzurufen. Sie zu bitten, ihn abzuholen. Doch sie hatte heute am späten Nachmittag einen Termin. Einen ganz Wichtigen. Es gab Interessenten, die das alte Anwesen der Morgans kaufen wollten. Von der Provision könnte sie einen Teil der Schulden abbezahlen, hatte sie ihm erst beim Frühstück vorgerechnet. Vorausgesetzt, dieses Treffen fand auch statt. Also würde er sie nicht anrufen.
Seufzend lief er aus dem Klassenzimmer, hinüber zu seinem Spind. Dort schloss er die Bildermappe ein. Wenn sie schon auf ihn warteten, dann sollten sie nicht auch noch seine Zeichnungen in die Finger bekommen.
Ryan ergriff den braunen Rucksack und warf ihn sich nachlässig über die Schultern. Langsam trottete er den breiten Flur entlang. Komisch. Wie still so eine Schule sein konnte. Heute Morgen noch tobte lautes, kreischendes Leben in dem Gemäuer und wenige Stunden später schien es völlig ausgestorben. Er musste grinsen. Was, wenn doch Außerirdische da gewesen waren, er der letzte Schüler dieser Highschool wäre? Ob er dann in jedem Fach mit einem A abschließen würde?
Auf dem Weg nach draußen sah er durch die Türscheiben hindurch in die Klassenräume. Vielleicht war ja noch irgendwo ein Lehrer, der ein Elterngespräch führen musste, oder eine Klausur vorzubereiten hatte – doch so viel Glück hatte er nicht. Niemand war mehr im Gebäude.
Resigniert drückte er die schwere Schultür auf, schob sich hinaus und blieb erst einmal auf der Treppe stehen. Draußen schien die Sonne, es war immer noch heiß, schätzungsweise fünfundzwanzig Grad. Es war Mitte Juni, die Ferien standen vor der Tür.
Der Schulhof war leer, bis auf ein paar Getränkeflaschen, die nicht den Weg in die Mülltonne gefunden hatten. Bei den Fahrradständern stand ein einsames Mountainbike. Ryan musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass dieses Rad einen Platten haben würde. Es hatte andauernd einen Platten. Mal war es der Vorderreifen, der durchstochen war, mal der hintere. Die Schläuche sahen inzwischen schlimmer aus, als ein Schweizer Käse, wegen der Löcher, die er andauernd flicken musste. Bald würde es nicht mehr möglich sein, dann bräuchte er Neue. Aber die kosteten ein Vermögen.
Ryan zog den Kopf zwischen die Schultern und lief rüber zu seinem Rad. Er kümmerte sich nicht um den Platten, warf nur seinen Rucksack über den Lenker und machte, dass er wegkam. Die Tore waren noch weit geöffnet, Mr. Parker, der Hausmeister, würde sie erst in einer Stunde, also gegen sechs Uhr schließen. Er überlegte kurz, Mr. Parker zu suchen und ihn um Hilfe zu bitte, doch der Hausmeister war kein netter Zeitgenosse. Man ging ihm besser aus dem Weg, ansonsten bestand die Gefahr, dass er einen zum Hof fegen verdonnerte. Oder zum
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