Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Für das Gehirn stellte sie ein Durchschnittsgewicht von 1405 Gramm fest. Dann entnahm sie den ausgemergelten Toten verschiedene Organe und legte sie auf die Waage. Im Vergleich zu den Normalwerten wichen die meisten Messergebnisse stark ab. Alle inneren Organe waren durch die Auszehrung um bis zu 40 Prozent leichter als bei normal genährten Erwachsenen – alle, bis auf das Gehirn. Nur zwei Prozent oder weniger Gewichtsverlust ergaben Marie Kriegers Messungen. Selbst unter schlimmsten Ernährungsbedingungen, so ihre sensationelle Entdeckung, verändert das Gehirn sein Gewicht nur minimal.
Im Jahr 1921 veröffentlichte sie ihre Ergebnisse, und obwohl Kriegers Analysemöglichkeiten damals nur bescheiden waren, hat ihr Befund bis heute Bestand. Mittlerweile lassen sich Gewichtsverluste innerer Organe durch die moderne Magnetresonanztomographie ( MRT ) auch bei lebenden Menschen präzise ermitteln. Bei Menschen, die an Magersucht (Anorexie) leiden, weisen die inneren Organe im Extremfall Gewichtsverluste von bis zu 40 Prozent auf, während das Gehirn nur minimal an Masse und Gewicht einbüßt. Auch neueste MRT -Ergebnisse zu stark übergewichtigen Patienten, die mit Hilfe einer kalorienreduzierten Diät Körpermasse verlieren, belegen, dass das Gehirn im Gegensatz zu allen anderen Organen nicht abnimmt.
Woran liegt das? Warum gibt es ein Organ in unserem Körper, das selbst während einer Hungersnot nicht von der Mangelernährung betroffen zu sein scheint? Für dieses Phänomen kann es nur eine Erklärung geben: Das Gehirn nimmt in der Stoffwechselhierarchie des Körpers eine Sonderstellung ein. Es stellt zuerst seine eigene Versorgung sicher, während sich der Rest des Körpers mit der Energie begnügen muss, die dann noch übrigbleibt. In Zeiten des Mangels bedeutet dies, dass die anderen Organe hungern und dem Gehirn alle verfügbaren Energiereserven überlassen müssen. Kann es sein, dass unser Gehirn wie ein egoistischer Despot agiert?
Checks and Balances – das Prinzip der
Gewaltenteilung in unserem Gehirn
Den Wissenschaftlern war zwar seit den 1950er Jahren klar, dass das Gehirn Informationen aus dem Stoffwechsel empfängt, sie verarbeitet und weitergibt. Grundsätzlich aber war das Gehirn für sie nur ein ganz normaler Energieempfänger wie alle anderen Organe auch. Keiner kam auf die Idee, dass das Gehirn einen ganz eigenen Energieplan haben könnte. Marie Krieger hatte einen ersten Beleg dafür geliefert, dass unser Stoffwechsel hierarchisch organisiert ist und das Gehirn darin eine Sonderstellung einnimmt. Der »Egoismus des Gehirns« geht dabei sogar so weit, dass es in Notsituationen den Rest des Körpers von der Energiezufuhr weitgehend abschneidet. Dieses charakteristische Vorgehen gab der Forschungsrichtung, die diesem Buch zugrunde liegt, ihren Namen: die Selfish-Brain-Theorie (engl. »selfish« = selbstsüchtig; engl. »brain« = Gehirn).
Es mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, dass unser Gehirn wirklich selbstsüchtig oder egoistisch sein kann. Denn das würde bedeuten, dass unser Zentralnervensystem in der Lage ist, eigenständig zu handeln, möglicherweise ohne unsere Wünsche und Interessen zu berücksichtigen. Doch dieser Egoismus des Gehirns verschafft uns Menschen Vorteile. Ist es also denkbar, dass uns gerade ein solchermaßen konkurrenzfähiges Gehirn dabei hilft, unseren Körper auch in Zeiten des Nahrungsüberangebotes schlank zu halten?
Das funktioniert natürlich nicht einfach per Knopfdruck. Die Entscheidungs- und Handlungsprozesse, die in unserem Kopf ablaufen, sind viel komplexer, als wir denken, und am ehesten vergleichbar mit der Funktionsweise eines demokratischen Rechtsstaats. »Checks and Balances« ist eine Redewendung aus der angelsächsischen Politikwissenschaft. Frei ins Deutsche übersetzt bedeutet sie: kontrollieren und ausgleichen. Ein solches Regulationssystem ermöglicht demokratischen Regierungen innerhalb definierter Grenzen Handlungsfreiheit und reduziert die Gefahr einer Diktatur. Denn Macht und Entscheidungsgewalt sind auf verschiedene Instanzen verteilt, die sich gegenseitig beeinflussen und kontrollieren. In einem demokratischen Staat sind das die Regierung, die Parteien, das Parlament, die Gerichte und die Wähler. Keiner kann allein entscheiden. Und solange die Zeiten gut und stabil sind und das System intakt ist, wird keiner die uneingeschränkte Macht an sich reißen können. So entsteht eine ideale Balance, die es ermöglicht, die
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