Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
ihren Geltungsbereich erweitern, allerdings gelang ihm dies nicht lückenlos. Trotz seiner jahrzehntelangen Bemühungen blieben viele Fragen offen, darunter eine ganz entscheidende: Warum isst ein Patient mit Diabetes, obwohl sein Blutzucker dramatisch erhöht ist? Aufgrund seines hohen Blutzuckers müsste er gemäß Mayers Theorie eigentlich sofort zu essen aufhören. Die aus Mayers Grundgedanken abgeleitete Lipostatische Theorie wies eine ähnliche Lücke auf: Warum isst ein Patient mit Übergewicht, obwohl seine Fettspeicher übervoll sind? Gemäß den Vorhersagen des Modells dürfte auch er wegen des hohen Energiefüllstandes im Körper nicht mehr essen. Warum sich diese Prognosen in der Praxis nicht bestätigen, auf diese Frage konnte bis heute niemand eine Antwort geben.
Von 1969 an kehrte Mayer der experimentellen Forschung den Rücken, wurde Präsident der Tufts University und in den folgenden Jahren gesundheitspolitischer Berater von drei US -Präsidenten – Richard Nixon, Gerald Ford und Jimmy Carter. Obwohl seine Theorie offenkundige Schwächen hatte, war er bis 1993 der einflussreichste Experte für Ernährungsfragen in den USA . Unter seiner Leitung wurden diverse Programme und Richtlinien zur Bekämpfung von Unter- und Überernährung aufgelegt und zum Teil zu Gesetzen und Verordnungen geformt. Sein Denkansatz fand weltweit Beachtung und hatte auch Auswirkungen auf das Gesundheitswesen in Deutschland. Die gesamte Fachrichtung der Diabetologie etwa basiert auf Mayers Theorie und formuliert dementsprechend ihre Therapieziele: Der Blutzucker soll in engen Grenzen normal oder nahe normal eingestellt werden, auch bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Gleiches gilt für die Bewertung von Gesundheitsrisiken durch Übergewicht in der Inneren Medizin; auch das Körpergewicht soll gemäß der von Mayers Grundidee abstammenden Lipostatischen Theorie auf normal eingestellt werden. Dementsprechend zielt die daraus abgeleitete Therapie von Adipositas schlicht auf eine Normalisierung des Körpergewichts.
Jean Mayers Konzept hat über die vergangenen Jahrzehnte die gesundheitspolitische Diskussion geprägt. Die Erfolge indes sind bescheiden. Die Industrienationen geben nach wie vor Milliarden für die Behandlung von Übergewicht und den daraus entstehenden Folgeerkrankungen aus. Parallel dazu hat sich ein weiterer Milliardenmarkt etabliert, der Unsummen mit Diäten, kalorienreduzierten Lebensmitteln oder Nahrungsergänzungsmitteln verdient. Alles, um das Übergewichtsproblem zu lösen. Alles vergebens, wie die Statistiken der WHO belegen.
Erstaunlicherweise machen trotzdem alle so weiter wie bisher: die Mediziner, die Politiker, die Ernährungsberater, die Physiologen … In einer Situation, in der ein Problem trotz vielfältiger Bemühungen unlösbar erscheint, steht die Schuldfrage hoch im Kurs. Irgendjemand muss doch für die Übergewichtsepidemie verantwortlich sein. Diesen endlosen und ebenso sinnlosen Diskurs hat der Kinderarzt Robert H. Lustig in einem Artikel in der Fachzeitschrift Pediatric Annals treffend so beschrieben: »Die Gesundheitsbehörden sagen, Übergewicht resultiert aus einem Ungleichgewicht im Energiehaushalt – es wird zu kalorienreich gegessen und zu wenig Sport getrieben. Die Lebensmittelkonzerne beklagen, dass sich die Menschen nicht genug bewegen, die TV -Industrie behauptet, es liegt an der falschen Ernährung, die Atkins-Leute verteufeln die Kohlenhydrate, die Ornish-Befürworter verdammen das Fett, die Fruchtsafthersteller machen die Limonaden verantwortlich, die Limonadenhersteller verweisen auf die Fruchtsäfte. Die Schule sieht die Verantwortung bei den Eltern, die Eltern sehen die Schule in der Pflicht. Wie soll man ein Problem lösen, wenn sich niemand verantwortlich fühlt?« Und das Problem wird immer drängender. Die eingangs erwähnten WHO -Zahlen werden schon bald überholt sein. Besonders dramatisch ist der rasante Anstieg von übergewichtigen Kindern. Übergewicht in der Kindheit und Jugend wiederum ist ein maßgebliches Vorzeichen für Übergewicht im Erwachsenenalter. Und: Je früher Übergewicht auftritt, desto früher erhöht sich auch das Krankheitsrisiko. Es ist nicht die Zeit, einfach so weiterzumachen. Es ist an der Zeit, eine Krise auszurufen: Wir haben ein riesiges Gesundheitsproblem mit übergewichtigen Kindern und Erwachsenen, und Schuldzuweisungen werden es nicht lösen. Es ist an der Zeit, alte Überzeugungen in Frage zu stellen und die Ursachen, die zu
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