Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
ermittelte Dosis selbst spritzen. Das wäre die größtmögliche Verbindung von wirksamer Therapie und Lebensqualität.
Doch wie würde so ein Computerprogramm aussehen? Welches Schaltschema läge ihm zugrunde? Um diese Frage beantworten zu können, müsste man wissen, wie unser Körper im gesunden Zustand das Problem der optimierten Insulinausschüttung gelöst hat. Eine Frage, die der Medizin noch immer Rätsel aufgab.
Eines Morgens nahm ich nicht den direkten Weg in mein Büro, sondern wanderte durch die Straßen von Downtown Toronto und genoss die frische Frühlingsluft. Beim Gehen kommen einem die besten Ideen, heißt es. Ich erreichte eine Kreuzung und musste an einer Fußgängerampel warten. Autos fuhren an, während die Wagen auf der kreuzenden Straße stoppten. Dann schaltete die Ampel wieder um, und der Gegenverkehr begann von neuem zu fließen. Ich war so in Gedanken, dass ich die nächste Grünphase verpasst hatte. Fasziniert starrte ich auf die Kreuzung: Wenn zwei Straßen aufeinandertreffen, lässt sich der Verkehrsfluss mit einer einfachen Rot-Grün-Phase sicher und effektiv regulieren. Wäre dieses Modell auch für den Stoffwechsel denkbar? Eine Art Ampelschaltung des menschlichen Organismus, die die Glukosezufuhr zum Gehirn beziehungsweise zu den Speicherorganen reguliert?
Beflügelt eilte ich ins Büro und ging mein Bücherregal durch. Ich hatte mich schon früher mit Mathematik und der Berechnung von Schaltkreisen beschäftigt, Joseph J. DiStefanos Buch Theory and Problems of Feedback and Control Systems über Regelungstheorie musste hier irgendwo sein. Tatsächlich entdeckte ich darin die Schaltung einer Ampel, die den Verkehr der sich kreuzenden Straßen A und B regelt. Diese Ampel war aber nicht, wie im Straßenverkehr üblich, starr programmiert. Hier ging es um eine flexible Ampelschaltung, die ständig Informationen über das aktuelle Verkehrsaufkommen erhält und die Grünphasen für A und B rechnerisch so anpasst, dass Verkehrsstaus vermieden werden.
Ließe sich so ein flexibles System auf die Regulierung des Blutzuckers bei Menschen wie dem kleinen Leonard übertragen? Ich spielte das Szenario durch: Straße A führt ins Gehirn, Straße B ins Fett- und Muskelgewebe. Bei einem Energiemissverhältnis (zu wenig Glukose gelangt ins Gehirn, zu viel in die Speicher) ergeht ein Signal an die Bauchspeicheldrüse: »Insulinausschüttung drosseln!« Fett- und Muskelzellen können jetzt keine Glukose mehr aufnehmen, der »Blutzuckerverkehr« fließt ungehindert ins Gehirn. Entsteht dort eine Überkapazität, erfolgt der gegenteilige Befehl: »Insulin ausschütten!« Jetzt sind die Speicher im Muskel- und Fettgewebe offen, der Glukose-Strom wird gezielt dorthin geleitet.
Wenn dieses Prinzip zutraf, könnte so auch ein Insulinrechner funktionieren – wie eine intelligente Ampelschaltung, die aufgrund aktuell erhobener Blutzuckerwerte den Energiefluss des Körpers durch eine rechnerisch optimal angepasste Insulindosis reguliert. Ob dieses Schaltmodell so oder ähnlich tatsächlich im Körper arbeitet, war 1987 allerdings noch nicht zu belegen. Viele physiologische Aspekte lagen im Dunkeln, auch die Frage, welche Rolle das Gehirn bei der Entscheidung spielt, wohin der Blutzucker gelenkt wird, war ungeklärt. Wer weiß, vielleicht war sogar das Gehirn allein für die Programmierung der Stoffwechsel-Ampel in unserem Körper verantwortlich. Diese einfache, aber fundamentale Frage nach der Kontrolle des Energieflusses durch das Gehirn war schließlich der Ausgangspunkt für die Entstehung der Selfish-Brain-Theorie. Bis dahin hatte die Medizin versucht, Störungen im Energiehaushalt des Körpers symptomatisch zu behandeln, ohne näher zu erforschen, wo die tieferen Ursachen für das Ungleichgewicht lagen.
Auch wenn es mir damals noch nicht gelang, meine Theorie experimentell zu untermauern – die Idee vom egoistischen Gehirn ließ mich nicht mehr los. 1998 beschäftigte ich mich erneut mit der Ampelidee. Ich hatte mein Forschungsprojekt in Kanada beendet und arbeitete an der medizinischen Fakultät der Universität Lübeck. Dort befasste ich mich mit der entscheidenden Frage, ob und wenn ja auf welche Weise das Gehirn den Energiefluss im Körper kontrolliert. Seit Toronto waren elf Jahre vergangen – viel Zeit für neue Erkenntnisse. Inzwischen hatten ein Kanadier, ein Amerikaner und ein Brite drei wichtige Funktionen des Hirn- und Körperstoffwechsels entdeckt: Luc Pellerin hatte 1994 den
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