Das einsame Herz
Schauspiel wird.«
Mit sich steigernder Erregung hatte Otto Heinrich die Zeilen gelesen. Nun warf er das Schreiben auf den Tisch, hieb die Faust darauf, daß die Tranlampe klirrte und blakte und der Glasschirm einen Rußstreifen bekam, und sprang dann auf. Sein Gesicht war unnatürlich gerötet.
Mit großen Schritten ging er in der Kammer hin und her.
Der Vater in Ungnade! Verwickelt in Spionage!
O Vater … Vater … armer Vater … Nun ist die Einsamkeit vollendet bei dir … und mir … den Namen Kummer umweht der Hauch des Moders, des Grabes, des Vergessens … Vielleicht … du unglücklicher Vater … vielleicht verstehst du jetzt den fernen, verstoßenen Sohn Otto Heinrich … Vielleicht spürst du jetzt selbst die Kälte von den Sternen steigen und die Wünsche lauter werden, dort zu sein, wo alle Qualen nichts sind vor der Größe des unbegreiflich Ewigen. Vielleicht erkennt dein Herz jetzt auch den anderen Gott, nicht den, von dem man von der Kanzel spricht, sondern den unbekannten, der in dem Wissen schläft, daß unser Leben nur eine Brücke ist, die von dem einen Dunkel in das andere führt, ein kleiner Weg durch das Bewußtsein, nach dem die köstliche Stille des Unbewußten folgt, des Unaussprechlichen – die Nähe Gottes.
»Vater«, sagte Otto Heinrich leise. »Liebster Vater … wenn ich dir doch helfen könnte …«
Er stand lange Zeit schweigend am Fenster und sah in die Sterne. Erst als es kühl im Zimmer wurde, ging er zum Ofen, blies das verflackernde Feuer an, legte einige trockene Scheite nach und ging zum Tisch zurück.
Vom Turme der nahen Kirche schlug die Zeit. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu zählen – es war ja auch gleich … was ist die Zeit … ob heute, morgen oder übermorgen … das Leid der Menschen ist beständiger als der seltene Kerzenschimmer des Glückes …
Langsam nahm Otto Heinrich den Brief vom Tisch und las ihn im Stehen zu Ende.
»Das war es, was ich Ihnen zu melden habe, mein liebster Freund. Seien Sie stark im Gram und Schmerz – die Prüfungen des Lebens sind nie so groß, daß sie untragbar wären; denn wer wie Sie und ich das Leben so unwichtig nimmt, wird nicht vor solchen kleinen menschlichen Leiden in die Knie sinken. Es ist die Lehre der Stoiker, das Leben dem Gleichklang der Natur gleichzusetzen. Sie setzen der Vernunft ein Denkmal in dem Ideal der Selbstbeherrschung. Gott ist die Natur, das Wirkliche ist körperlich, die Kraft ist der edelste und feinste Stoff des Lebens – die Kraft des Ichs. Seien Sie stark, liebster Freund, stark auch im Leid, und helfen Sie Ihrem Vater, indem Sie die Kraft finden, das Wirkliche zu tun: die Türen Ihres Vaters stehen offen.
Ich hoffe, Sie bald zu sehen. Ich bleibe bis zum neuen Jahr in Dresden. Leben Sie wohl, bester Freund, und gedenken Sie in schwerster Stunde der Worte Galileis: Und sie bewegt sich doch! –
In immerwährender Freundschaft
Ihr A. v. Maltitz.«
Unter dem Schreiben stand in einer steilen, energischen Schrift, die sich hart von den Kringeln der Maltitzschen Zeilen abhob, ein kurzer Satz.
»Ich rate Ihnen als Freund: Kommen Sie nach Dresden. Herzlichst von Seditz, Geheimer Kabinettsrat Seiner Majestät des Königs von Sachsen.«
Otto Heinrich ließ das Schreiben auf den Tisch fallen und warf sich auf sein durch eine Decke geschütztes Bett. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die gekalkte Decke, auf die der Schein der Tischlampe einen fantastisch geformten, an den Rändern dunkel ausgefransten Lichtkreis warf.
Nach Dresden, dachte er, nach Dresden.
Weihnachten in Dresden. Spazierengehen im Schnee unter der hohen Kuppel der Frauenkirche. Und am Heiligabend läuten von allen Türmen die Glocken das Halleluja.
Otto Heinrich schloß die Augen und drehte sich zur Seite. Er schämte sich vor sich selbst, daß er weinte, er schalt sich einen Narren, als das Schluchzen seinen Körper schüttelte … aber er schluchzte und weinte wie ein Kind und fühlte unter den Tränen sein Herz freier, weiter und lichter werden.
»Ich komme, Vater«, flüsterte er. »Ich komme zu euch zurück … Wartet auf mich … Ich komme …«
So lag er mit geschlossenen Augen, unter deren Lidern die Tränen hervorquollen, und regte sich nicht. Unmerklich dämmerte er hinüber in die Welt des Traumes, und als die blakende Lampe den letzten Tropfen Öl saugte und flackernd erlosch, schlief er endlich ein.
Otto Heinrich erwachte erst, als die vereinzelten Schneeflocken sich zu einer
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