Das einsame Herz
den jungen Apotheker lesend und auf der Decke des Bettes liegend antraf. »Ein Brief aus Dresden …«
»Aus Dresden?« Mit einem Satz sprang Otto Heinrich auf und trat dem Boten entgegen, die Arme weit ausgestreckt. »Aus Dresden einen Brief! Welch ein Wunder! Er kommt von meinem Vater Gotthelf Kummer?«
Der Geselle drehte die Siegel vor den Augen und schüttelte den Kopf.
»Es scheint nicht so. Der Herr Absender nennt sich A. von Maltitz.«
»Maltitz? Aus Dresden? – Geben Sie her – das wird eine freudige Nachricht!« Er drückte dem Boten einige Kreuzer in die Hand, nahm den schweren Brief und eilte mit ihm zum Tisch. Mit einem »Gute Nacht, Herr Provisor!« verließ der Postmeistergeselle die Stube und tappte die steile Treppe hinab.
In seiner Kammer entzündete Otto Heinrich eine zweite, kleine Tischlampe, um den Brief mit mühelosem Behagen lesen zu können; dann besah er sich eine gute Weile die roten und blauen Siegel mit dem freiherrlichen Wappen derer von Maltitz.
Der Brief war oft gefaltet, von schwerem breitgerilltem Pergamentpapier und eng beschrieben mit einer zierlichen, fast tänzerischen Schrift.
Er glättete ihn mit beiden Handflächen auf der kleinen Tischplatte, schob die Lampe näher heran, sprang noch mal auf und legte zwei dicke Tannenscheite in den Ofen, um nicht durch ein Verglimmen der entfachten Glut gestört zu werden, und setzte sich dann bequem zurecht, den ersten Brief, den er in Frankenberg erhielt, zu lesen.
»Mein liebster Freund –«
Das war das erste, was er las, und eine tiefe Freude durchrann sein Herz, genannt zu werden wie die wenigen Auserwählten, die wirklich einen Freund fürs Leben fanden und nie bereuten, eine Hand vertrauensvoll gedrückt zu haben.
»Mein lieber Freund!
Sie werden sehr erstaunt sein, von einem Manne ein paar Zeilen zu empfangen, den Sie vielleicht schon längst aus dem Gedächtnis strichen, in dem die wenigen Stunden in Augustusburg nur schemenhaft als eine ferne Erinnerung spuken. Und doch möchte ich heute um Ihr Gehör bitten, weil ich die ganze Zeit über das bestimmte Gefühl nicht zu unterdrücken vermochte, in Ihnen einen Menschen gefunden zu haben, den das Schicksal weit über seine Jahre reifte und der nach bürgerlicher Standmoral so vermessen ist, den Blick zu Sternen zu erheben, die fern dem Wissen unserer breiten Masse schweben.
Ich grüße Sie aus Dresden. Ein wenig Heimatluft müssen diese Zeilen jetzt in Ihre Stube tragen, denn ich hielt den Brief, bevor ich ihn schloß, an der Elbe an den Wind und tränkte ihn mit der würzigen Schneeluft, die von der Vogelwiese zu mir herüberwehte.
Dresden ist eine herrliche Stadt! Es ist eigentlich ein Garten Eden für das die Schönheit begreifende Künstlerauge, und wenn ich durch den mächtigen Zwinger wandere und vom Flachdache auf den Nymphenbrunnen schaue, so scheint es mir, als habe diese Stadt nur noch in Rom und Paris ihre Konkurrentinnen an Ewigkeit und berückender Glückhaftigkeit.
Sie sind in einem Paradies geboren, junger Freund!
Aber nun, mein Liebster, bitte ich Sie um Haltung und um Bezwingung Ihres Herzens … ich war als Gast bei Ihrem Vater …«
Otto Heinrich ließ das Blatt sinken und schloß die Augen. Ein merkwürdiges, bedrückendes Kribbeln zog über sein Herz, drohte den Schlag zu hemmen und ließ ihn schwer und schneller atmen.
Der Vater …
Er sah seine große, kräftige Gestalt vor sich, den strengen Blick, mit dem er, ohne viel zu sprechen, den großen Hausstand dirigierte. Er sah die Mutter, das wertvolle Spitzenhäubchen auf den angegrauten Haaren, durch die Zimmer gehen, die kleine Schwester Anna Luise an der Hand, den Liebling der Familie, dem man alles verzieh, weil es, ein Kind unter Erwachsenen, die Herzen aufriß mit dem Jauchzer ihrer Kindlichkeit …
Otto Heinrich blickte auf. Die blonde Locke war ihm in die Stirn gefallen, sie pendelte vor seinen Augen und behinderte den Blick. Mit einem Schwung des Kopfes schleuderte er sie wieder auf sein Haupt und beugte sich dann erneut über den Brief.
»Ihr Vater ist ein vortrefflicher Mann. Da ich abends kam, lud er mich zur Tafel, wo ich Ihre hochverehrte Frau Mutter und Ihre Geschwister kennenlernte. Mit der kleinen Anna Luise habe ich Freundschaft geschlossen … sie sieht Ihnen so ähnlich, nur hat ihr kleines Auge noch den Funken Freude, der sich bei Ihnen tief ins Herz vergrub. Warum nur, liebster Freund? Das Leben ist nichts wert, schon recht – doch muß es halt gelebt werden. Das ist
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