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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Scheidung, oder: Eine Scheidung würde ihm arg zu schaffen machen?«
    »Ja, wortwörtlich. Mehrere Male. Zumindest …« Er schaute zur Decke hoch und dachte nach. »Zumindest zweimal.«
    »Na gut«, sagte Billy T. kurz und sicherte sich die Unterschrift seines Zeugen auf dem Ausdruck. Damit war das Verhör beendet.
    »Bleiben Sie in der nächsten Zeit in Oslo«, sagte er noch.
    »Ja, sicher. Wo sollte ich denn sonst hin?« fragte der Mann und verschwand.

    Tone-Marit war nicht von gestern. Sie war seit vier Jahren und neun Monaten bei der Polizei, und schon in drei Monaten würde sie sich Oberwachtmeisterin nennen und sich an die nur selten benutzte Uniform einen zweiten Streifen heften können. Sie arbeitete zwar erst seit einem Jahr mit ihr zusammen, aber Hanne war bereits von der Sechsundzwanzigjährigen
    beeindruckt. Sie war eher gründlich als originell und eher pflichtbewußt als eigentlich klug, aber Gründlichkeit und Pflichtbewußtsein haben schon viele gute Fahndungsergebnisse erbracht.
    Jetzt steckte sie fest. Mit Buchführung kannte sie sich nicht besonders gut aus. Vor ihr lagen drei dicke Ordner, aber sie begriff den Unterschied zwischen laufenden Mitteln und 140
    Anlagemitteln, zwischen Betriebsergebnis und Ausgleich noch immer nicht besser als vor zwei Stunden.
    Etwas aber hatte sie immerhin registriert. Ungewöhnlich viele Buchungen stammten von Terje Welby. Seine Rolle als stellvertretender Heimleiter war offenbar fast gänzlich von Maren Kalsvik übernommen worden. Sie hatte zwar keine Kontovollmachten, aber das wäre eigentlich logisch gewesen, wenn Agnes Vestavik das Heim auch in finanzieller Hinsicht geleitet hätte.
    »Frag die Jungs von der Finanzabteilung«, riet Billy T., nachdem er aufs Geratewohl in den Ordnern herumgeblättert hatte. »Ich werde derweil diesen Terje Welby ein bißchen schütteln.«
    Er grinste breit vor lauter Vorfreude, und Tone-Marit packte dankbar ihre Ordner zusammen, um seinen Rat zu befolgen.
    »Weißt du schon mehr über die fehlenden Dreißigtausend von Agnes’ Konto?«
    Tone-Marit legte die Hände auf die Ordner und nickte.
    »Nur, daß sie in drei verschiedenen Bankfilialen in der Stadt abgehoben worden sind. Und daß das Konto zwei Tage danach gesperrt worden ist. An dem Tag, an dem Agnes ermordet wurde. Ich habe die Banken gebeten, die Schecks
    herauszusuchen, dann sehen wir weiter. Aber das kann dauern, alles, was sie nicht im Computer haben, braucht doch eine Ewigkeit.«
    »Alles, was sie im Computer haben, auch«, murmelte Billy T.
    Der Mord an Agnes Vestavik lag eine Woche zurück. Hanne kam es vor wie eine Ewigkeit. Der Abteilungsleiter, sonst ein rücksichtsvoller Mann mit großem Verständnis für die Probleme seiner Untergebenen, war ihr auch kein Trost. An diesem Tag hatte er sie abgewiesen. Der Doppelmord in Smestad band alle Kapazitäten; ein Reeder und seine leicht alkoholisierte, verlebte Gattin waren mit fast gänzlich weggesprengten Köpfen 141
    aufgefunden worden, es handelte sich um den groteskesten Raubmord in der Geschichte Norwegens. Die Zeitungen suhlten sich im Grenzbereich zwischen Sozialpornographie und Gesellschaftsklatsch, vermischt mit der üblichen Hetze gegen eine unfähige Polizei, und der Chef wurde gelinde gesagt ungeduldig. Agnes Vestaviks Tod hatte am ersten Tag ein wenig Aufsehen erregt, aber inzwischen war er Geschichte. Für alle, abgesehen von dem Kleeblatt, das noch immer verzweifelt nach Motiv und Möglichkeit suchte.
    »Herrgott«, murmelte Hanne. »Die Zeiten ändern sich. Vor zehn Jahren hätte ein solcher Mord die ganze Abteilung auf den Kopf gestellt. Wir hätten zwanzig Leute gekriegt und auch sonst alles, was wir brauchen.«
    Erik Henriksen wußte nicht, ob er diesen Ausbruch als Kritik auffassen sollte, vielleicht hielt sie ihn für ein Leichtgewicht.
    Deshalb hielt er wohlweislich den Mund.
    »Aber«, jetzt lächelte sie plötzlich, so als hätte sie ihn gerade erst entdeckt, »was hast du eigentlich herausgefunden?«
    »Dieser Liebhaber«, begann ihr Kollege, »hat arge
    Finanzprobleme.«
    Finanzprobleme? Wer zum Teufel hat die nicht, überlegte Hanne Wilhelmsen und verzichtete auf die Zigarette, auf die sie gerade Lust hatte.
    »Aber die wenigsten Leute begehen wegen ihrer
    Finanzprobleme einen Mord«, seufzte sie. »Jeder zweite würde sicher sagen, daß er solche Probleme hat, wenn wir eine Umfrage machten. Wir brauchen viel mehr. Etwas mehr …
    Leidenschaft! Haß, Verachtung, Angst, irgendwas in dieser

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