Das einzige Kind
Sie wissen rein gar nichts darüber, wie er lebt und wie er die Welt auffaßt. Er ist weggelaufen, weil er das Heim gehaßt hat. Er wollte nach Hause. Nach Hause, verstehen Sie? Hierher! Für Sie ist das wohl kein besonders tolles Zuhause, nehme ich an, aber ich bin nun mal die einzige auf der ganzen Welt, die Olav wirklich liebt! Die einzige auf der ganzen Welt! Nehmt ihr darauf vielleicht Rücksicht? Nein, ihr schleppt den Jungen davon wie ein Paket und erwartet von mir, daß ich mit euch
zusammenarbeite! ›Sie müssen verstehen, Frau Håkonsen, daß Olav bei dem Loyalitätskonflikt, in den der Umzug ihn stürzen wird, Hilfe braucht, und daß Sie mit uns zusammenarbeiten müssen.‹« Dieses Zitat fauchte sie und schnitt dabei eine Grimasse. »Verstehen? Zusammenarbeiten? Wenn sie mir das einzige wegnehmen, wofür ich lebe? Und was diese Agnes betrifft …«, sie sagte den Namen in einem verzerrten, häßlichen Tonfall, »ihr Tod tut mir nicht eine Sekunde lang leid. Die hat sich doch tatsächlich eingebildet, sie könnte für Gott und die Welt die Mutter spielen. Olav hat eine Mutter! Mich! Wissen Sie, was sie gemacht hat, ehe mein Junge weggelaufen ist? Sie wollte ihn bestrafen und hat ihm gesagt, ich dürfte ihn zwei Wochen lang nicht besuchen. Zwei Wochen! Das ist gar nicht erlaubt. Olav hat mich angerufen, und …«
Sie ließ sich auf dem Sofa zurücksinken und verstummte.
Hanne räusperte sich und hob ihre Kaffeetasse. Sie war naß von übergeschwapptem Kaffee, und Hanne hielt die Hand darunter, um nicht noch weiter zu kleckern. Trotzdem fiel ein großer Tropfen auf den cremefarbenen Teppichboden.
»Ich weiß nichts über das Jugendamt, Frau Håkonsen«, war das einzige, was sie herausbringen konnte.
Die Frau schien Anlauf zu nehmen, um mit ihrem
Wutausbruch weiterzumachen. Doch dann überlegte sie sich die 132
Sache anders. Vielleicht hatte sie keine Kraft mehr. Sie ließ sich ins Sofa zurücksinken, saß ganz still da.
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte Hanne. »Das war wirklich nicht meine Absicht.«
Die Frau gab keine Antwort, und Hanne sah ein, daß sie jetzt besser gehen sollte. Sie erhob sich, bedankte sich für den Kaffee und entschuldigte sich noch einmal für die Störung. Als sie in der Diele stand, war sie fast sicher, durch eine geschlossene Tür, die wahrscheinlich ins Schlafzimmer führte, etwas gehört zu haben. Sie wollte schon fragen, ob noch jemand in der Wohnung sei, tat es dann aber doch nicht. Sie hatte bei dieser Frau, die keinerlei Sympathie für die Behörden hegte, ihre Befugnisse schon viel zu weit ausgedehnt. In einem Regal neben dem Garderobenschrank lag ein Stapel Bücher aus der Bibliothek.
Die registrierte sie als letztes, ehe sich die Tür hinter ihr schloß.
Als sie die Betontreppe hinunterging und sah, daß niemand sich die Mühe gemacht hatte, die verschmutzten Windeln in den Müllschacht zu werfen, dachte sie daran, wie anmutig die Frau sich bewegt hatte. Birgitte Håkonsen war überhaupt ganz anders, als sie sich sie vorgestellt hatte.
Draußen war es noch immer grau, naß und menschenleer.
Aber ihr Wagen war zum Glück unversehrt. Kein bißchen Graffiti war zu sehen.
Unglaublicherweise hat er es geschafft, ruhig zu bleiben. Das zeigt nur, wie sehr er sich fürchtet. Die Polizistin war mindestens eine halbe Stunde lang hier. Ich kann mich nicht erinnern, daß er je so lange ruhig gewesen ist.
Einmal, vor langer Zeit, er muß etwa acht gewesen sein, wir waren gerade neu nach Oslo gezogen, hat er genauso lange in seinem Zimmer gesessen. Dachte ich. Als ich über eine Stunde lang nichts gehört hatte, wollte ich ihm etwas zu essen bringen.
Unsere Wohnung lag im Erdgeschoß, nie schien die Sonne 133
herein. Im Zwielicht dachte ich schon, er sei eingeschlafen. Aber er war verschwunden. Ich hatte eine Höllenangst und wußte nicht, was ich machen sollte. Deshalb blieb ich einfach auf seinem Bett sitzen. Kurz vor Mitternacht wurde er von der Polizei gebracht. Der Junge grinste von einem Ohr zum anderen und stank nach Alkohol. Er torkelte in sein Zimmer, und der höfliche Polizist sagte, einige ältere Jungen hätten ihn zum Trinken verleitet. Und ich sollte einen Arzt holen, meinte er.
Niemand wußte, wieviel Alkohol er in sich hineingeschüttet hatte.
Ich habe keinen Arzt geholt. Aber ich habe die ganze Nacht bei ihm gesessen. Er hat gekotzt wie ein Reiher und war zwei Tage lang lammfromm. Ich durfte ihm bei allem möglichen helfen, und er war
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