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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Wand blieb sie hängen. Hanne Wilhelmsen schob sich daran vorbei und betrat die Wohnung.
    Der Flur war leer. Auch das Wohnzimmer war leer. Sie blieb einen Moment lang stehen und musterte die typische Junggesellenwohnung, die Möbel waren bunt
    zusammengewürfelt, vor einem Fenster fehlten die Vorhänge, und es war nicht einmal der Versuch gemacht worden, irgendeine Art von Gemütlichkeit zu erzeugen. Keine Bilder an der Wand, keine Topfblume. Das Spülbecken war voller benutzter Gläser.
    »Hanne, komm her!« rief jemand vom Flur her.
    Drei Männerrücken versperrten die Tür zum Badezimmer. Sie stupste den hintersten Rücken an, und die drei wichen langsam zur Seite.
    Sie stieß einen leisen Pfiff aus.
    Terje Welby saß auf dem Toilettendeckel. Genauer gesagt: Dort saßen seine sterblichen Überreste. Er hatte seine Schuhe noch an und trug ansonsten gürtellose Jeans und ein T-Shirt. Der Kopf war ihm auf die Brust gekippt, seine Arme hingen schlaff nach unten. Er erinnerte an einen Mann, der nach übermäßigem Trinken zusammengebrochen ist. Nur die riesige Blutlache um seine Füße und seine durchschnittenen Pulsadern paßten nicht zu diesem Bild.
    Hanne trat langsam in das Badezimmer, in dem für zwei Personen kaum Platz war. Ohne die Leiche oder sonst etwas zu berühren, beugte sie sich über die Hände des Toten und stellte fest, daß er nur links die Hauptschlagader getroffen hatte. Aber dort hatte er zum Ausgleich gründliche Arbeit geleistet. Eine zehn Zentimeter lange Wunde klaffte in seinem Unterarm, und mitten in all dem Blut ahnte sie weiße Sehnen und Knochen.
    Im Waschbecken lag eine leere Whiskyflasche. Auf dem Boden lag ein großes Tapetenmesser mit blutbesudelter Klinge.
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    Vorsichtig berührte sie mit zwei Fingern seinen Hals. Der war schon ziemlich kalt. Kein Lebenszeichen war zu spüren.
    »He’s dead all right«, sagte sie leise und verließ rückwärts das Badezimmer. »Sagt bei der Technik Bescheid.«
    Dieser Befehl galt den Jungs von der Verstärkung.
    »Der Technik? Bei einem eindeutigen Selbstmord?«
    Der Einspruch war berechtigt. Die Technik wurde schon seit Jahren bei Selbstmordfällen nicht mehr automatisch eingesetzt.
    »Sagt ihnen Bescheid«, beharrte Hanne und hockte sich neben die Badezimmertür, ohne diesen hergelaufenen Kollegen einer näheren Erklärung zu würdigen.
    Er seinerseits zuckte mit den Schultern, warf seinem Begleiter einen vielsagenden Blick zu und trottete davon, um den Befehl auszuführen. Hauptkommissarin blieb eben Hauptkommissarin.
    Zuerst wurden Fotos gemacht. Hanne Wilhelmsen, die sich zurückziehen mußte, um der Technik Bewegungsfreiheit zu gewähren, war beeindruckt davon, wie geschickt der Kollege sich in dem kleinen Zimmer bewegte, ohne auch nur ein einziges Mal Blut, Leiche oder Wände zu berühren. Er verließ zweimal den Raum, um einen neuen Film einzulegen, sagte aber nichts. Als das Badezimmer gebührend verewigt worden war, fingen zwei Mann an, die Lage des Toten im Verhältnis zu Decke, Waschbecken und den vier Wänden genau auszumessen.
    Ab und zu tauschten sie leise Kommentare aus, einer notierte die Meßergebnisse auf einem Spiralblock. Hanne sah, daß die beiden millimetergenau arbeiteten.
    Danach wurden Fingerabdrücke gesichert. Ihr fiel auf, daß sie schon lange bei keiner Tatortuntersuchung mehr zugegen gewesen war; statt das schwarze oder weiße Pulver zu benutzen, an das sie gewöhnt war, verwendeten die Männer an einzelnen Stellen eine Art Spray, das eine undefinierbare Farbe hinterließ.
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    Zwei Stunden später war diese Arbeit abgeschlossen.
    Vorsichtig wurde die Leiche auf eine Bahre gebettet und zum Krankenhaus gefahren, wo sie für kurze Zeit in einem gelben Zimmer auf einer Metallbank liegen und in ihre Bestandteile zerlegt werden würde.
    »Klarer Selbstmord, wenn du mich fragst«, sagte der eine Techniker und packte seinen Koffer. »Sollen wir die Wohnung versiegeln?«
    »Ja, aber dann müssen wir die Tür wieder anbringen«, antwortete Hanne.
    Bald darauf war die Tür einigermaßen wieder an Ort und Stelle, und zwei Ösenschrauben wurden an Rahmen und Türblatt befestigt. Zwischen diesen Schrauben verlief ein dünner Metalldraht, dessen Enden in einer Bleiversiegelung steckten.
    »Vielen Dank, Jungs«, sagte Hanne mit erschöpfter Stimme und schickte Erik mit den Technikern los.
    »Ich muß nach Hause. Sagt Bescheid, daß ich den Wagen bis morgen früh behalte.«
    Sie war unendlich traurig.
    Erik Henriksen hatte

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