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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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um die Ecke, aber die Tür war abgeschlossen. Allerdings nur das normale Schloß. Das Sicherheitsschloß war nicht verschlossen, also ist er wohl zu Hause.«
    Hanne Wilhelmsen war nicht in der Stimmung, sich um einen seit zwei Stunden vermißten Erwachsenen Sorgen zu machen.
    »Er kann es doch vergessen haben«, sagte sie müde. »Er kann etwas anderes zu tun haben. Vielleicht ist er ja sogar beim Arzt.
    Zwei Stunden Verschwinden einer Person, die älter ist als drei, das ist einfach nicht genug.«
    Am anderen Ende der Leitung war es still. Dann hörte Hanne Geräusche, die anzudeuten schienen, daß die Frau weinte. Ganz leise.
    »Bestimmt ist alles in Ordnung«, versuchte Hanne zu trösten, diesmal war ihr Tonfall weniger brüsk. »Er wird schon wieder auftauchen.«
    »Aber verstehen Sie doch«, sagte die Frau und weinte erst recht los. Erst nach einer Weile konnte sie weitersprechen. »Das ist doch noch längst nicht alles«, sagte sie schließlich. »Ich kann das am Telefon nicht erklären, aber es gibt wirklich Grund zur 145
    Besorgnis. Er … ich kann jetzt nicht darüber reden. Aber können Sie nicht bitte bei ihm nachsehen, ob alles in Ordnung ist? Bitte!«
    Erik Henriksen war näher an Schreibtisch und Telefon herangerutscht, hatte die Ärmel hochgekrempelt und die Ellbogen auf den Tisch gestemmt. Hanne konnte seine Uhr sehen, eine billige Imitation einer Rolex Oyster.
    »Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen«, sagte sie und legte auf.
    Erik blickte sie fragend an, und sie nickte. Er konnte mitkommen.
    »My God!« Hanne blieb stehen und blickte den Wachtmeister verzweifelt an. »Gerade putze ich dich herunter, weil sich niemand mehr für andere interessiert, und dann will ich eine abweisen, die genau das tut. Sich interessiert.«

Sie hatten Glück und erwischten nach nur zehn Minuten Warten einen Dienstwagen. Und das war so etwas wie ein Rekord.

    Die Wohnungstür war abgeschlossen, genau wie Maren Kalsvik gesagt hatte. Im Spalt zwischen Türblatt und Rahmen konnten sie sehen, daß das Sicherheitsschloß nicht benutzt worden war, auch das stimmte mit Maren Kalsviks Aussage überein. Hanne Wilhelmsen steckte die Hand in die Tasche, fischte ein Papiertaschentuch heraus und versuchte, auf die Klinke zu drücken, ohne sie allzusehr zu berühren. Erik Henriksen sah ihr erstaunt zu.
    »Nur so zur Vorsicht«, beruhigte sie ihn.
    Sie hatte eine verschlossene Tür und einen seit drei Stunden vermißten Erwachsenen. Das reichte bei weitem nicht für eine amtliche Erlaubnis, die Tür aufzubrechen. Wäre ihr treuer Kollege, Polizeiadjutant Håkon Sand nicht so verdammt modern 146
    gewesen, ein ganzes Jahr Erziehungsurlaub zu nehmen, dann hätten sie es hintricksen können. Jetzt hatte Hanne keine Ahnung, welcher Adjutant Dienst hatte. Und sie brauchte einen Juristen, um die Wohnung betreten zu können.
    Betreten mußte sie sie. Was Maren Kalsvik ihr mit
    tränenerstickter Stimme im Laufe einer halben Stunde wild durcheinander erzählt hatte, war dermaßen aufsehenerregend, daß es für einen Haftbefehl fast schon ausreichte. Aber der Versuch, einem Juristen per Telefon zu erklären, daß ein phantastisches Motiv aufgetaucht war und daß ein möglicher Täter sich am Schauplatz von Agnes Vestaviks traurigem Dahinscheiden aufgehalten hatte, erschien ziemlich hoffnungslos. Andererseits: Vielleicht stand hier ein Leben auf dem Spiel.
    Sie bat Erik, vor der Tür stehen zu bleiben, aber nichts anzufassen. Sie selbst ging zum Auto und hatte nach einigem Hin und Her den zuständigen Juristen an der Strippe. Sie hatte Glück. Er war alt, reichlich erschöpft und mit allen Wassern gewaschen. Er begriff, gab grünes Licht und reichte sie an die Kripo weiter. Die versprach, daß in einer halben Stunde Verstärkung eintreffen werde.
    Die Verstärkung tauchte nach einer Dreiviertelstunde auf.
    Aber das Warten hatte sich gelohnt. Zwei schweigsame Männer, die wußten, was sie taten, und die sich ohne Wenn und Aber mit einem soliden Rammbock auf einer schweren quadratischen Eisenplatte mit Griffen für vier Paar Hände vor der Tür aufstellten. Hanne und Erik stellten sich hinter sie.
    »Und eins, und zwei, und DREI«, sagte der eine Polizist, während sie den Rammbock hin und her schwangen und ihn bei
    »drei« gegen die Tür wuchteten.
    Das Holz hatte keine Chance. Die Tür knackte, ließ hilflos den Rahmen, der sie festhalten wollte, los und kippte in die Wohnung. Vor der nur anderthalb Meter entfernten
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    gegenüberliegenden

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