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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Richtung. Der Typ war von der Frau doch hin und weg. Sie waren nicht verheiratet, deshalb hatte er kein finanzielles Interesse an ihr.«
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    »Aber seine Arbeitskollegen sagen, daß er in der letzten Zeit sehr still gewesen ist. In den letzten zwei Wochen oder so. Fast schon deprimiert, sagen sie.«
    »Na und?« fragte Hanne herausfordernd und legte die Hände zusammen. »Was besagt das schon? Wenn Agnes Schluß gemacht hat, oder wie man das bei einem platonischen Verhältnis nennen soll, dann ist das noch lange kein Grund, sie mit einem Messer umzubringen. Und es wäre höchst seltsam, wenn niemand etwas von einem Streit mit einem ehemaligen Liebhaber mitbekommen hätte, der mit einem Mord endete!«
    Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und setzte sich gerade.
    »Nein, jetzt bin ich ungerecht, Erik.« Sie lächelte. »Ich wollte meinen Frust nicht an dir auslassen. Aber das ist doch wirklich komisch, was? Niemand interessiert sich für den Fall. Der Chef redet kaum ein Wort mit mir. Die Zeitungen sind gleichgültig.
    Im Kinderheim geht alles seinen gewohnten Gang. Die Kinder lärmen und spielen, der Mann bleibt im Haus wohnen, die Welt dreht sich um ihre Achse, und eine Woche nach ihrem Tod interessiert Agnes Vestavik auch mich fast schon nicht mehr. In einem Monat wird sich kaum noch jemand an den Fall erinnern.
    Ist dir überhaupt klar …«
    Sie verstummte und suchte aus einem Zeitungsstapel auf dem Boden eine Ausgabe des Arbeiderbladet heraus.
    »Hier«, sagte sie und schlug einen Artikel auf. »Jetzt werden in Oslo mehr Morde begangen als in Kriminalromanen. Zum ersten Mal in der Geschichte. Himmel und Ozean!« Sie schlug sich die Hand vor die Stirn. »Die Schriftsteller können mit uns nicht mehr Schritt halten! Hier ein Mord, dort ein Totschlag, wen interessiert das schon? Jetzt müssen es mindestens zwei Tote sein, wenn überhaupt jemand aufmerksam werden soll.
    Oder die Leiche muß geschändet worden und das Opfer muß reich sein. Oder eine Prostituierte. Oder ein Fußballspieler, irgendein Prominenter oder Politiker. Oder, noch besser: Der Täter ist reich oder prominent. Eine anonyme Frau, die nichts 143
    vorzuweisen hat als ein ruhiges Leben und einen
    Halbwegsliebhaber, nach der kräht doch heute kein Hahn mehr.
    Oder interessiert dich die Sache vielleicht?«
    Als sie diese Frage stellte, beugte sie sich über den Tisch und blickte ihm in die Augen.
    »Natürlich interessiert mich die Sache«, murmelte er und schluckte noch einmal. »Das ist schließlich mein Job.«
    »Genau! Uns interessiert das, weil es unser Job ist. Aber dem Chef ist das egal, der packt uns nur zu gern alles auf. Den Zeitungen ist es egal, für die ist der Fall nicht spannend genug.
    Und uns interessiert er auch nur so wenig, daß wir jeden Nachmittag leichten Herzens nach Hause gehen und Frikadellen essen können, ohne auch nur an eine Vierjährige zu denken, die ihre Mutter auf eine Weise verloren hat, die wir eigentlich verhindern sollten. Verhindern! Das ist nämlich unsere wichtigste Aufgabe! Verbrechen zu verhindern! Wann hast du zuletzt ein Verbrechen verhindert, Erik?«
    Er wollte ihr schon erzählen, daß er erst am vergangenen Samstag einen Freund daran gehindert hatte, sich besoffen hinters Steuer zu setzen, aber das verkniff er sich dann doch klugerweise.
    Das Telefon schellte, und Erik Henriksen fuhr zusammen.
    Hanne Wilhelmsen ließ es viermal klingeln, um erst einigermaßen zur Ruhe zu kommen.
    »Wilhelmsen«, sagte sie kurz.
    »Hanne Wilhelmsen?«
    »Ja. Mit wem spreche ich?«
    »Hier ist Maren Kalsvik. Aus dem Heim Frühlingssonne.«
    »Ach.«
    »Ich rufe an, weil ich mir um Terje Welby Sorgen mache. Sie wissen schon, unser stellvertretender Heimleiter. Der mit dem Rücken.«
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    »Warum machen Sie sich Sorgen?«
    Hanne Wilhelmsen legte einen Finger an die Lippen, um Erik zur Ruhe anzuhalten, zeigte auf die Tür und winkte ihm, sie zu schließen. Er mißverstand und wollte schon gehen, als Hanne die Hand auf die Sprechmuschel legte und flüsterte: »Nein, nein, Erik, komm rein, und mach die Tür zu. Aber sei still.«
    Dann drückte sie vorsichtig auf den Lautsprecherknopf ihres Telefons.
    »Er ist doch noch halbtags krank geschrieben und hat heute früher Feierabend gemacht. Aber er hätte herkommen müssen, um eines von den Kindern zu einem Motorradkurs zu bringen, für den er verantwortlich ist. Vor zwei Stunden schon. Ich habe mehrere Male bei ihm angerufen. Dann bin ich zu ihm gegangen, er wohnt gleich hier

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