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Das Ekel von Datteln

Das Ekel von Datteln

Titel: Das Ekel von Datteln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo P. Reinhard; Ard Junge
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und blickte weg. Seit der zweiten Prüfung seines Alibis würden sie von ihm wohl keinen Kaffee mehr bekommen.
    Die Zeremonie unterschied sich kaum von den hundert Beerdigungen, die Lohkamp schon überstanden hatte. Der Pfarrer tat seinen Job, die Ministranten verhielten sich manierlich, der Kirchenchor sang nicht falscher als in anderen Orten. Auch Roggenkemper sagte, als er ans Grab trat, nichts, was von den Musterreden der Rhetorik-Lehrgänge abwich. Er hatte in Datteln nur Freunde, und wenn er schon zu ihren Lebzeiten nett zu ihnen gewesen war, dann fiel er bei ihrem Heimgang erst recht nicht aus der Rolle.
    Mehrfach blickte Lohkamp verstohlen zu den Koniferen hinüber, zwischen denen das Dach und das rechte Seitenfenster des Bauwagens hindurchlugten. Aber so sehr er sich auch bemühte – es war nichts zu erkennen, was ihn dem Geheimnis drinnen näher brachte.
    Das Defilee begann. Frau Puth, ganz Dame, ganz Trauer, zog mit ihrem Gatten vors Grab, ließ ihn die drei Schüppchen Erde werfen und geleitete ihn zu den Hinterbliebenen. Lange drückte Puth der Mutter die Hand, sprach ein paar Worte zum Vater und schleppte sich davon. Wenn seine Trauer nicht echt ist, dachte Lohkamp, hat er ’nen Oscar verdient.
    Gellermann befand sich in der wohl heikelsten Lage: Als Puths Vize musste er die Firmenflagge hochhalten, aber politisch und privat konnte ihm das Getuschel nicht lieb sein.
    Als der Betriebsrat zum Grab vorrückte, mischte er sich so geschickt unter die Gruppe, dass er kaum noch zu sehen war. Flankiert von Schweißern, Lackierern und Bleistiftakrobaten trat er an die Schwelle zum Jenseits, griff als dritter oder vierter zur Schaufel und nach den Händen der Verwandten – und war so flott verschwunden, dass für Zwischenfälle keine Zeit blieb.
    Gespannt wartete Lohkamp ab, wie Michalski reagieren würde. Eine Zeitlang sah es aus, als wollte er sich drücken und den Rückzug antreten, aber dann tat er doch, was alle taten. Er brauchte ein wenig länger für die Erde, legte kurz die Hände zusammen und ging mit gesenktem Kopf weiter.
    »Ach, Helmut«, schluchzte die Mutter auf. »Dich trifft keine Schuld. Wenn du doch …«
    Eine schneidende Stimme fuhr dazwischen: »Nimm bloß nicht diesen Windhund in Schutz. Mit dem fing alles Unglück an …«
    Alle blickten zu der Schwester hinüber, auch Lohkamp, auch die anderen Beamten. Michalski hielt sich erstaunlich wacker: Er küsste die Mutter, drückte die Hand des Vaters, nickte auch der Schwester zu, als wäre nichts gewesen, und tauchte in der Menge unter – keinen Schritt zu langsam, keinen zu schnell.
    Als Lohkamp seinen Blick vom Rücken des Geschiedenen löste, war es ihm, als hätte er hinter den Koniferen eine Bewegung bemerkt.
    Er stieß Brennecke den Ellenbogen in die Rippen. Langsam schoben sie sich zur Seite weg, umgingen in gemessenem Tempo eine Reihe Gruften, ehe sie im Schutz dichter Tannen schneller laufen konnten. Den Hauptweg überquerten sie wiederum verhalten, aber hinter den nächsten Bäumen rasten sie los.
    Brennecke war schneller als er und erreichte den Bauwagen als Erster. Er hämmerte seine Hand auf die Klinke und riss daran, als wolle er den Wagen aus den Angeln heben.
    Nichts geschah. »Mist!«, schimpfte er und zog noch einmal, ließ aber sofort los. In den Metallösen, die an Tür und Rückwand festgeschraubt waren, hing ein Schloss.
    Enttäuscht stöhnen sie auf. Dann hob Brennecke die Hand und rüttelte an dem Vorhänger. Schon beim ersten Versuch hatte er Erfolg. Der Stahlbogen war nicht eingeschnappt, das Schloss ließ sich aus den Ösen ziehen. Vorsichtig öffneten sie die Tür.
    Zigarettenrauch schlug ihnen entgegen: Roth-Händle, Gitanes, Machorka – irgendetwas, was an Bahndämmen wuchs. Dann schälten sich die beiden leeren Holzbänke aus dem Nebel, die kahlen Wände, die Kleiderhaken, der Tisch. Die Vögel waren ausgeflogen.
    Lohkamp zog sein Walkie Talkie heraus: »Pastor eins an alle. Achtung an den Eingängen. Sie sind weg. Achtet auf …«
    Er verstummte. Worauf sie achten sollten, war ihm im Moment selber nicht ganz klar.
    »… Ungewöhnliches«, schloss er und sah hoch in die Luft, um Brenneckes Blick nicht zu begegnen. Es war der idiotischste Befehl seiner Laufbahn.
    Ein Rauschen aus dem Sprechfunkgerät weckte ihn auf: »Pastor 3 an alle. Wir haben sie …«
    Sie rannten los, auf den entfernteren zweiten Ausgang zu. Schon an der alten Kapelle in der Mitte des Friedhofs begannen Lohkamps Lungen zu pfeifen.

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