Das elektronische Glück
Wahrscheinlich beneidete sie mich um meine Jugend und dachte zerstreut und melancholisch an Vergangenes und Verlorenes. Sie erinnerte sich vielleicht daran, was vor zehn Jahren und vor zwanzig Jahren und während der ganzen letzten fünfzig Jahre geschehen war. Und sicher schien es ihr so, als sei das alles schon lange, lange her. Sie ahnte nicht, daß es fast so gut wie gestern geschehen war, denn der junge Mann, den sie gerade angehalten hatte, konnte sich an Dinge erinnern, die vor zweihundert, zweihundertfünfzig, ja vor dreihundert Jähren geschehen waren. Und im Grunde ist das alles auch so gut wie gestern gewesen. Was ist denn die Zeit? Danach habe ich einst Immanuel Kant gefragt. Und Kant meinte, ob ich ihm nicht eine leichtere Frage stellen könnte.
Gestern unterhielt ich mich mit Professor Tichomirow. Er ist Historiker und liebt seine Wissenschaft anscheinend sehr.
»Ein Historiker«, sagte er nachdenklich, »ist im Grunde ein ewig umherwandernder – Melmoth, der gleichzeitig in verschiedenen Epochen lebt.«
»Und wer ist dieser Melmoth?«
»Das ist der Held eines gleichnamigen Romans von Maturin, eine Art Anti-Faust, ein Mensch, der seine Seele dem Teufel für das Recht verkauft hat, ewig etwas Neues zu erfahren und nichts zu vergessen. ›Melmoth der Wanderer ‹ , haben Sie von diesem Roman noch nie gehört? Puschkin hat ihn hochge schätzt, auch Balzac hat ihn sehr geliebt, er hat sogar eine Fortsetzung dazu geschrieben.«
»Ich bin dieser Ihr Melmoth«, sagte ich. Doch der tief in Gedanken versunkene Professor hörte meine Worte nicht.
Tichomirow hegt Sympathien für mich. Er zieht mich allen anderen Studenten meines Studienjahres vor. Er kennt das XVIII. Jahrhundert sehr gut, aber ich kenne es besser. Mein Gedächtnis bewahrt nicht nur, was in den Büchern niedergelegt ist, sondern die ganze lebendige Zeit. Wenn ich den Newski oder den Litejni entlanggehe, sehe ich nicht nur die heutigen Gebäude aus Glas, sondern auch jene Häuser, die einst an ihrer Stelle standen. Mir wird ganz eigenartig zumute, wenn ich die Bäume des Sommergartens ansehe. Das waren damals ganz dünne Stämmchen.
Unwillkürlich sprach ich laut Worte aus, die ich nicht hätte aussprechen sollen.
»Was ist die Zeit?« fragte ich.
Tichomirow lächelte und sagte: »Diese Frage könnte nur Melmoth erschöpfend beantworten. Er kannte das Rätsel der Zeit und das Geheimnis der Macht über sie.«
»Ich bin auch ein Melmoth«, sagte ich leise, in der Hoffnung, daß Tichomirow es nicht hören würde.
Doch er hatte es gehört und sah mich verwundert an. »Sie? Das würde ich wohl doch nicht sagen. Sie haben eher das Gesicht eines Menschen, dem jede Erfahrung fehlt, so als seien Sie gerade erst auf die Welt gekommen. In Ihren Augen spiegelt sich eine große Ahnungslosigkeit, eine absolute Unkenntnis, wie es nur bei kleinen Kindern der Fall zu sein pflegt. Allerdings nicht immer. Ich weiß noch, als ich Sie beim Examen nach Katharina II. nach ihrem Hof und danach gefragt habe, wie Petersburg ausgesehen hat, da haben Sie mit so erschöpfender Informiertheit geantwortet, daß ich etwas verwirrt wurde. Doch kehren wir zu Melmoth zurück. Er wand sich förmlich unter der unerträglichen Last seiner persönlichen und historischen Erfahrungen. Sein Gedächtnis war überladen und sein Herz von der Fülle der Ereignisse erschöpft. Wenn man Sie ansieht, glaubt man nicht, daß übermäßig viele Erfahrungen auf Ihnen lasten. Wenn ich Ihre Worte richtig verstehe, so möchten Sie vielleicht ein Melmoth sein?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Ich bin mir selbst noch nicht so zur Last, daß ich nach fremden Erlebnissen giere und neidisch bin auf fremde Erfahrungen.«
10
Das Gefühl, daß ich ein Fremdling bin, dieses seltsame Gefühl verläßt mich weder im wachen Zustand noch im Schlaf. Wenn ich durch die Straßen gehe, höre ich auf die Worte der Passanten. Ich möchte in ihr Leben eindringen, ich möchte nicht nur den Sinn ihrer Worte verstehen, sondern auch jenen unbegreiflichen und einmaligen Rhythmus des kostbaren, irdischen Menschendaseins erfassen, der mich immer wieder in Erstaunen versetzt.
Ich gehe die Straße entlang und höre auf die Stimmen der Passanten.
»Lisa«, sagt eine männliche Stimme leise und eindringlich. »Lisa…«
Ich höre nicht, was die Frauenstimme antwortet.
»Lisa«, wiederholt die Männerstimme. »Lisa… Lisa«, fleht sie.
Die Frau schweigt.
Lisa. Dieses
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