Das elfte Gebot
Jem den Sattel. Seine wuchtigen, dunkelgekleideten Beine legten sich in die Pedale, und das Dreirad fuhr mitten durch die Trümmer hindurch in einen langen Tunnel hinein. Kurze Zeit später befanden sie sich auf den Straßen von New City.
Diesmal waren alle Sinne Boyds gleichzeitig schockiert. Der Gestank hier war buchstäblich stark genug, um geschmeckt zu werden, weit schlimmer als draußen auf dem Landefeld. Der überall herumliegende Unrat und Müll bewiesen, daß er keineswegs von jenen mysteriösen Gärsilos herrührte. Seine Augen dagegen verzeichneten den Anblick von Menschen – wilde Horden kleingewachsener, dunkelhäutiger Menschen, die überall herumwimmelten, drängelten, umherirrten und jeden freien Platz zu besetzen schienen. Seine Arme stießen gegen sie, während das Dreirad sich einen Weg hindurchbahnte, und seine Haut begann zu kribbeln. Der stärkste Eindruck jedoch entsprach der Wirkung eines Tollhauses aus lauten Schreien und niemals enden wollendem Stimmengewirr.
Die Straße war kaum breiter als eine Gasse. Vor langer Zeit mußten hier Geschäftshäuser, eine weitaus breitere Verkehrsader begrenzend, gestanden haben. Davon war kaum noch etwas zu erkennen, denn Feuer und Verfall hatten die meisten der ursprünglich vorhandenen Gebäude verwüstet. Hastig waren aus den Bergetrümmern zwei- oder dreistöckige rohe Bauten wiedererrichtet worden. Inzwischen waren viele davon bereits dem Zusammenbruch nahe. Kein Platz aber war vergeudet worden. Die Materialien der Zerstörung waren gebraucht und wieder gebraucht worden, um die seltsamsten Schuppen zu bauen. Der Straßenrand war von den erbarmungswürdigsten Bauten gesäumt, die sich wiederum standfesterer Gebäude als Halt bedienten, alles gedeckt mit Stücken und Fetzen aus Abfallmaterialien. Wahllos dazwischengemischt waren Verkaufsstände, die als Läden fungierten, deren Lebensmittel und sonstige Güter schutzlos Fliegen und Straßenstaub ausgesetzt waren. Wo immer Löcher den Blick ins Innere dieser Wohnbauten freigaben, erblickte Boyd Dutzende von Bewohnern der winzigen Räume.
Die Straße selbst schien als Treffpunkt für alle zu dienen. Inmitten des Abfalls spielten schmutzige, magere Kinder, oder sie durchstöberten sorgfältig die Müllkörbe nahe den Verkaufsständen, von älteren Gesichtern mit hungrigen Augen beobachtet. Boyd gab es auf, die Deformierten, Krüppel und entstellten Figuren, die er überall sah, zu zählen. Aus allen Ecken und Winkeln schrien Bettler um Almosen, aber ihr Klagen verlor sich fast völlig im Lärm der Menge.
Irgendwie gelang es dennoch dem Dreirad, sich einen Weg durch das Gewimmel und Gewirr aus Karren und Rikschas zu bahnen. In aller Regel wurde demjenigen mit der größten Lungenkraft die grollend gewährte Vorfahrt gegeben. Jem drängelte sich schreiend und schubsend hindurch, von einem Wirbel von Flüchen und drohend geschüttelten Fäusten verfolgt. Selbst der Priester als Fahrgast schien die Menge nicht zur Zurückhaltung zu bewegen, und nur Boyds blonder Haarschopf zog staunende Blicke auf sich. Offenbar waren keine echten Blondhaarigen auf der Erde verblieben, und es gab nur wenige Menschen, deren Körpergröße mehr als einen Meter sechzig betrug.
Plötzlich schossen aus einem Winkel etliche zerlumpte Bengel hervor, die ein kleines, felliges, laut quiekendes Etwas jagten. Einer der Jungen geriet unversehens im Eifer der Jagd mitten in die Bahn des Dreirads. Ein Rad schleuderte ihn zu Boden und rollte über ihn hinweg, so daß er betäubt liegenblieb. Als Boyd zurückblickte, sah er ihn aufspringen, als sei nichts geschehen, und, lauter als zuvor schreiend, seinen Freunden hinterherrennen.
Mit lässigen Bewegungen verscheuchte Gordini die Fliegen und sah Boyd an. Er schien amüsiert über dessen Reaktion zu sein. Beim nächsten Halt vor einer Wagenstauung lehnte er sich herüber.
„Ziemlicher Unterschied zum Mars, nehme ich an, nicht wahr?“
Boyd schüttelte schwach den Kopf. „Sieht es in der ganzen Stadt so aus wie hier?“
„Mal besser, mal schlechter. Gewissermaßen entsprechen die örtlichen Bedingungen der jeweiligen Sektion. In dieser alten Fabrikgegend beispielsweise leben schätzungsweise um die vier bis fünf Millionen Menschen.“
„Vier bis fünf Millionen Menschen?“ Boyd hatte Mühe, sich die gehörte Zahl zu vergegenwärtigen. „Wie hoch, Vater Gordini, ist denn dann die Gesamtbevölkerungszahl?“
Der Priester zuckte die Achseln. „Das weiß niemand genau. In New
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