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Das elfte Gebot

Das elfte Gebot

Titel: Das elfte Gebot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lester del Rey
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die Luft um ihn herum erhellen.
    „Großer Gott der Heerscharen, erhebe Dich, Du Richter dieser unserer Erde. Wie lange noch sollen die Gottlosen und die Heiden triumphieren? Sie verspotten Dein Volk und besudeln Dein Erbe. Sie sagen, es gibt keinen Gott und keine, welche bestehen können vor dem Herrn. Sie rotten sich zusammen gegen die Rechtschaffenen, sie verdammen die Gottesfürchtigen und die Unschuldigen. Sie verlachen Dein heiliges Tabernakel. Ich flehe zu Dir aus meiner Not. Wie lange, o Herr, willst Du den Heerscharen Babylons erlauben, zu gedeihen wie die grünen Bäume des Waldes? Du bist gerecht, o Herr, Du bist weise. Wer will sich erheben mit mir, den Bösen zu trotzen? Wer will sich erheben mit mir, den Übeltätern zu begegnen? Laß Deine Gnade leuchten über uns, mein Gott, und laß uns nicht verzagen. Denn Du bist der Gott der Rache und der Gerechtigkeit, und Dein Wille geschehe.“
    „Psalm vierundneunzig und ein wenig Hokuspokus“, flüsterte Ben. „Hat überhaupt keine Bedeutung. Aber sehen Sie sich die Menge an.“
    Boyd mußte seine gesamte Willenskraft aufbringen, um sein Gesicht von dem Mann auf der Bühne abwenden zu können. Er hatte gar nicht versucht, die Worte zu verstehen – einen Augenblick lang hatte es den Anschein gehabt, das Verstehen sei überflüssig. Nun aber, als der Mann seine Botschaft mit trauriger, leiser, eindringlicher Stimme fortsetzte, bemühte Boyd sich, auf den Sinn seiner Worte zu achten. Zuerst fiel ihm das sehr schwer. Vieles von dem, was der Blinde Stephan der Menge erzählte, war lediglich eine emotional übersteuerte Version der Tatsachen, die Ben ihm kurz zuvor mitgeteilt hatte. Dann aber, so subtil, daß es Boyd gar nicht auffiel, steigerten sich Sprachfluß und Tonfall, bis er wieder völlig von dem Redner gefesselt war. Boyd besann sich und schüttelte den Kopf. Neben ihm drehte Ben sich um und schickte sich an, das Gelände zu verlassen. Dieses Mal war es nicht so einfach, durch die Menge zu gelangen – alle schienen dem Redner an den Lippen zu hängen.
    „Er predigt einen Kreuzzug“, meinte Boyd. „Er ruft die Leute auf, sich zusammenzuschließen und nach Australien zu gehen, sich dort niederzulassen, auch mit dem Risiko, die Pest zu bekommen, und die Gelben – die Asiaten – zu vertreiben.“
    Ben stimmte zu. „Das tut er schon eine ganze Weile, und er macht es sehr geschickt. Es ist Ihnen wohl aufgefallen, wie sogar Sie selbst begannen, in seinen Rassenbegriffen zu denken. Er bietet den Menschen absolut nichts, er sagt ihnen nur, was sie ohnehin schon wissen, und doch fesselt er sie.“
    „Aber werden sie mit ihm kommen, wenn er bereit ist?“
    „Eine gute Frage. Ich glaube, er wird mehr Freiwillige haben, als er brauchen kann. Und das wird eine ganze Menge sein, denn er hat bereits den Einsatz der gesamten amerikanischen Planktonfischereiflotte angekündigt, um sie alle zu transportieren. Zudem erhält er finanzielle Beihilfe und Vorräte aller Art. Ich hörte, er soll einen Auftrag über fünf Millionen Aluminiumschwerter aufgegeben haben, und er bekommt sogar einige Gewehre.“
    „Das hört sich an, als wäre die Kirche nicht gegen ihn eingestellt“, meinte Boyd.
    „Himmel, sie sind solidarisch mit ihm! Er verdient sich seinen Lebensunterhalt hauptsächlich durch den Verkauf von Nachlässen, mit denen hierzulande die Sünden getilgt werden.“
    Das paßte nicht zu dem Bild, das Boyd sich gemacht hatte. Er hatte geglaubt, nun endlich einem Evangelistentreffen beiwohnen zu können. Ben lachte, als er ihm das sagte.
    „Ich nehme an, das ist Ihnen auch gelungen – das war Evangelismus einer Art, die man seit Petrus, dem Einsiedler, nicht mehr gehört hat. Doch haben wir es hier mit einem halboffiziellen Kreuzzug zu tun. Stephan war Weihbischof von Toledo, das ist nun zehn Jahre her – der jüngste Bischof im ganzen Land. Dann verschwand er. Als er vor zwei Jahren wieder auftauchte, war er blind und verfügte über seine faszinierende Rednergabe. Niemand weiß, wo er war. Manche sagen, in Australien – dann lacht er und behauptet, er sei auf der Halbinsel Sinai gewesen.“
    Sie waren nun ganz in der Nähe der Kathedrale, Ben wandte sich ostwärts, während Boyd wieder seiner Wohnung zustrebte. Sinai? Er dachte eine Weile darüber nach, bis ihm aufging, daß das der Ort war, wo Moses mit Gott gesprochen hatte und mit einem seltsamen Leuchten seines Gesichtes zurückgekehrt war. Er erschauerte und verfluchte sich selbst. Wenn er noch

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