Das elfte Gebot
Erschöpfungsphantasie, doch sie machte einen ganz vernünftigen Eindruck. Ihr Gesicht verdüsterte sich, die Linien traten schärfer hervor, doch sie weinte nicht. Sie saß ruhig auf der Couch, die Hände im Schoß, und starrte zu Boden, lediglich ihre Lippen bewegten sich.
„Es war in den Karten, die Dr. Morrow hatte – in den Fallgeschichten. Die meisten Leute können sich keine langen Nummern merken, aber ich kann das. Daher wußte ich es sofort. Es war mein Baby, und es lag krank im Domizil der Barmherzigen Mutter. Es brauchte mich, und ich brauchte es. Ich brauchte es. Er war das einzige Kind, das ich jemals haben werde. Nach dem, was Sie mir angetan haben, wußte ich, ich konnte … ich konnte keinen anderen Mann mehr berühren. Nein, lassen Sie mich ausreden. Sie wollten die Geschichte doch hören. Daher habe ich mein ganzes Geld genommen und bin hingegangen. Ich wollte irgendwohin weglaufen mit ihm. Sie ließen mich ein. Ich hatte ihre Karte und meine Arbeitsbescheinigung. Ich sagte ihnen, sie hätten einen Fehler gemacht. So kam ich hinein. Die Schwester mußte mir das Kind auf der Karte zeigen, um zu beweisen, daß der Bericht seine Richtigkeit hatte – oder auch nicht. Danach ging sie zur Oberschwester, ich griff mir mein Baby und rannte mit ihm los, so schnell ich konnte. Aber sie haben mich geschnappt. Drei große Nonnen schlugen mich, bis sie mein Baby wieder hatten, dann rannten sie mit ihm zurück. Ich konnte nichts tun. Sie wußten, wer ich war. Daher lief ich weg und versteckte mich. Und seitdem laufe ich unaufhörlich weg und verstecke mich. Ich habe mein ganzes Geld während des Kampfes verloren. Das war’s.“
Sie hörte auf zu reden, noch immer still sitzend wie zuvor. Eine Traurigkeit erfüllte Boyd, die die Worte zurückhielt, die ihm auf der Zunge lagen. Sie sah zu ihm auf und dann wieder zu Boden. Schließlich hob sie den Kopf und sah ihm direkt in die Augen.
„Das ist alles, was ich Ihnen erzählen werde. Sie können warten und machen, was Sie wollen, mehr sage ich nicht.“
Er hatte nicht mehr erwartet, doch nun wartete er geduldig. Schließlich sprach sie doch wieder, dieses Mal in Bruchstücken, zwischen denen sie sich immer wieder zur Ruhe zwingen mußte. Es klang unglaublich. Sie hatte ihr Baby deutlich gesehen, ebenso wie die Nummer auf seinem Arm. An der Identität konnte kein Zweifel bestehen. Aber es war nicht mehr wirklich ihr Baby. Es war ein Monster. Alles war falsch und in Unordnung geraten. Die chaotische Beschreibung hörte sich nicht nach einem natürlichen Monster, einer Mißgeburt an, denn sie schwor, das Baby sei bei der Geburt gesund gewesen. „Sie haben das getan. Sie haben mir mein Baby gestohlen und damit herumexperimentiert. Sie haben ein Monster daraus gemacht. Und mit vielen anderen Babys sind sie genauso umgesprungen. Ich habe noch andere gesehen …“
Einen Augenblick bedeckte sie ihre Augen mit den Händen, bevor sie diese wieder in ihren Schoß sinken ließ. Dann begann sie zu weinen, still und fast bewegungslos.
Es gab nichts, das Boyd hätte sagen können. Die Geschichte klang einfach unglaublich. Wenn das Kind normal auf die Welt gekommen war, dann konnte es nur durch eine Drüsenfehlfunktion in diesem Ausmaß verändert worden sein. Doch er hatte noch nie von einem drüsenbedingten Ungleichgewicht dieser Art gehört. Es hörte sich nicht wie das Produkt einer natürlichen Degeneration an. Aber der Vorwurf, daß Menschen in dieser Gesellschaft vorsätzlich Kinder für wilde Experimente verwendeten, klang vollkommen verrückt. Andererseits war auch der Kult der Sterilität unter den Priestern, verbunden mit dem elften Gebot für alle anderen Menschen, vollkommen verrückt. Die Geschichte, die sie ihm erzählt hatte, konnte teilweise ein Phantasiegespinst sein, doch sie enthielt kaum jene Art von Abnormalität, die von der Phantasie ersonnen wurde. Eine andere Möglichkeit war, daß ihr Kind schon immer deformiert gewesen war. Aber das war ebenfalls nur schwer zu glauben.
„Wie hast du nach deiner Flucht gelebt?“ fragte er.
„Ich weiß es nicht. Ich habe mein Essen gestohlen und in einem Loch unter einem Zementboden gelebt. Da lief nur immer das Wasser hinein, wenn es geregnet hatte. Ich glaube, ich habe nicht viel gegessen. Müssen Sie wirklich alles wissen? Schon gut, eines Nachts versuchte ich, einen Mann mitzunehmen – aber ich konnte es nicht. Als er mich berührte – ich konnte einfach nicht. Aber er war freundlich und gab mir
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