Das Elixier der Unsterblichkeit
größtes Gewicht bei. In seinen Augen war sie der wesentlichste Aspekt des Daseins. Manchmal, wenn er uns von unseren mittelalterlichen Vorfahren erzählte, betrachtete er uns stolz, strich uns übers Haar und seufzte mit einem in die Ferne gerichteten Lächeln. Aber es kam auch vor, dass er verärgert war, weil mein Zwillingsbruder Sasha und ich so wenig über unsere eigene Geschichte wussten. Ich erinnere mich besonders an eine Gelegenheit, als er ausgesprochen empört war darüber – ja, er betrachtete es als eine ausgeklügelte Bosheit unsererseits –, dass wir nicht bis in alle Einzelheiten vertraut waren mit dem traurigen Schicksal unserer entlegenen Verwandten Shoshana Spinoza; sie war, wenngleich erst ein aufblühendes junges Mädchen, als sie starb, eine der bahnbrechenden Erfinderinnen in der Geschichte der Physik.
Manchmal habe ich den Verdacht, dass mein Großonkel, der seine Zwillingstöchter im Krieg verloren hatte, den unbewussten Wunsch hegte, Sasha und ich würden mit der Geschichte abrechnen. Vor allem glaube ich, dass er der Meinung war, unser familiäres Milieu könnte uns zu schwachen, ängstlichen, unentschlossenen und bedrückten Menschen machen, sodass er seinen Einfluss auf unsere Gemüter dahin gehend nutzen wollte, uns in eine ganz andere Richtung zu lenken, uns Lebensmut, Tatkraft und Eroberungslust einzuflößen.
Fernando war jederzeit bereit, unserem Unwissen abzuhelfen und irgendeinen Verwandten vor dem Vergessen zu retten, indem er aus uns unbekannten Dokumenten zitierte oder uns Geheimnisse anvertraute, die in den dunkelsten Winkeln der Vergangenheit verborgen waren und die ein wohlwollender Geist ihm aus einer anderen Sphäre zugeflüstert hatte. Die Worte meines Großonkels fielen auf fruchtbaren Boden, weder Sasha noch ich reagierten jemals mit Skepsis auf seine Familienchroniken. Als Erzähler war er unwiderstehlich. Wir saßen da mit offenem Mund, erfüllt von Stolz und Bewunderung über die märchenhafte Welt, die er um sich her zum Leben erweckte.
Ich selbst war so begeistert von den Geschichten meines Großonkels, dass ich sie auswendig lernte. Manchmal, wenn er sich in einem Detail oder einem Datum irrte, konnte ich ihn sogar verbessern.
Nur Großmutter, die zuweilen vor sich hin murmelte, dass sie Fernando seit langem durchschaut habe, konnte die Zuverlässigkeit seiner historischen Quellen in Frage stellen. Wenn sie ihn manchmal, nach Sashas und meinem Dafürhalten überaus taktlos, nach diversen Sachverhalten ausfragte, wurde er häufig verlegen. Er saß dann nur schweigend mit gesenktem Blick und einem etwas schuldbewussten Lächeln da.
Doch sobald Großmutter das Zimmer verließ, nahm sein Gesicht wieder glückliche und entspannte Züge an und zeigte keine Spur von Bedrücktheit. Er bat uns dann, etwas näher zu rücken, und sagte vertraulich: »Die Wirklichkeit übertrifft die Phantasie. Wenn man weiß, was geschehen ist, braucht man keine Geschichten zu erfinden. Außerdem ist es leichter, einen Lügner einzuholen als einen lahmen Hund.«
DER SPIRITISMUS
Am meisten faszinierte es uns, wenn mein Großonkel, zuweilen erst auf dringliche Bitten und immer unendlich geheimnisvoll, uns offenbarte, wie er als Mitglied einer spiritistischen Gesellschaft durch ein erfahrenes Medium regelmäßig Kontakt mit den Toten aufnahm. Die Gesellschaft nannte sich Ad Astra, und die Sitzungen wurden jeden zweiten Mittwochabend in der Wohnung von Adalbert Nagyszenti abgehalten, einem freudianischen Psychoanalytiker, der aufgrund seines bürgerlichen Hintergrunds und seiner politischen Einstellung vier Jahre in einem stalinistischen Umerziehungslager im nordöstlichen Ungarn interniert gewesen war. Anschließend hatte man ihm Berufsverbot erteilt, sodass er sich jetzt als Nachtwächter eines Schrottlagers in einem schäbigen Arbeitervorort durchschlug. Hier trafen sich die vorurteilsfreisten und phantasievollsten Köpfe Budapests. Die Teilnehmer saßen um einen runden Tisch in einem Saal mit vorgezogenen Gardinen und ohne Spiegel. Die Zusammenkünfte wurden bei flackerndem Kerzenlicht mit der Lesung geheimer Texte auf Lateinisch eröffnet, was angeblich die Empfänglichkeit der Teilnehmer für spirituelle Erfahrungen förderte. Nach diesen Vorbereitungen fiel das Medium, eine blasse, magersüchtige Frau in gehobenem mittlerem Alter, in Trance und vermittelte den Kontakt mit der Geisterwelt.
Mein Großonkel hatte von Ad Astra zum ersten Mal bei Doktor Kisházy reden hören, einem
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