Das Ende - Alten, S: Ende
tröstender Geborgenheit.
Auch die Pest verließ den Körper, denn ihre DNS war darauf programmiert, ein neues Opfer zu suchen. Es war alles so einfach. Ein Schweißtropfen. Ein unvermeidliches Niesen oder Husten, ein Hauch vergifteten Atems, ein blutiges Handtuch in einem Mülleimer. Auf Sauberkeit zu achten wurde nebensächlich, wenn Trauer einen überwältigte. In einer Dreizimmerwohnung in einem zehnstöckigen Wohnhaus war es unmöglich, sich zu isolieren.
Grauenvolle Klarheit erfüllte das Denken der Überlebenden nach dem Tod des ersten Familienmitglieds, von dem nur ein ansteckender Haufen Fleisch übrig blieb, den man beseitigen musste – und zwar unverzüglich und mit kühlem Kopf.
Ein Schrank? Der Gestank war zu überwältigend. Der Flur? Was würden die Nachbarn sagen?
Scythe in Manhattan war wie der Untergang der Titanic, nur ohne ein einziges Rettungsboot. Es würde keine Wunder geben, nur eine neue Dosis Realität nach der anderen: Der Tod kam immer näher …
… und Flucht war unmöglich.
Shelby Morrison saß im Wohnzimmer auf dem Boden, nippte an ihrem vierten Bier und starrte die Duftkerze an, die auf dem Couchtisch brannte. Der Onkel ihrer Freundin saß am Fenster. Rich Goodman unterrichtete Chemie in der Highschool. Seine Frau Laurie war zusammen mit ihren beiden kleinen Kindern im Elternschlafzimmer.
Jamie Rumson hielt sich im Gästezimmer auf. Sie erbrach sich stöhnend.
Rich Goodman zweifelte nicht daran, dass seine Nichte im Sterben lag. Wie Zunder brannte eine einzige Frage in seinem Kopf: Wie viele Mitglieder seiner Familie würde sie mit sich in den Tod reißen?
Die Antwort lautete: alle. Es sei denn, es gelang ihm, kühl und entschlossen zu handeln. Und genau das war das Dilemma, denn worin bestand der Preis des Überlebens? Der Preis ist meine Seele … um meine Familie zu retten. Tu es jetzt, bevor du immer weiter hin und her überlegst … Die Freundin zuerst.
Rich Goodman griff nach dem Kerzenhalter aus Bronze, blies die Flamme aus und schlug Shelby Morrison damit heftig auf den Hinterkopf. Der Schädel brach mit einem ekelerregenden Knacken. Die Dreizehnjährige prallte mit der Stirn gegen den Tisch, bevor ihr Körper wie ein totes Gewicht in sich zusammensackte. Eine dunkle Blutlache breitete sich auf dem Linoleumboden aus, die wie verschütteter Pfannkuchensirup wirkte. Ein scharfkantiger
Knochensplitter ließ das Blut aus der Wunde schießen wie Wasser aus dem Blasloch eines Wals, sodass es auf Goodmans linke Wange und seinen Pullover spritzte.
Goodman riss sich das Kleidungsstück vom Leib und wusch sich im Küchenbereich das Gesicht mit Spülmittel und Wasser. Dann trat er über das Mädchen hinweg ans Küchenfenster. Rasend vor Wut kämpfte er anderthalb Minuten mit der doppelten Verriegelung, bis er schließlich jeden der beiden Griffe nacheinander mit beiden Händen packte und es ihm gelang, das eingefrorene Fenster zu öffnen.
Ein arktischer Wind fuhr in die Wohnung und blies die noch brennenden Kerzen aus.
Goodman zerrte Shelbys Leiche vom Boden hoch, während das Blut von allen Seiten herabtropfte. Halb schob, halb warf er die Leiche mit dem Kopf voran durchs Fenster, doch ihr Rumpf balancierte für einen prekären Augenblick auf dem Sims. Also packte er das Mädchen bei den Knöcheln und schleuderte es kaltblütig aus dem offenen Fenster der Wohnung.
Zehn Stockwerke. Mit einem erschreckenden dumpfen Aufschlag landete der Körper auf dem Bürgersteig.
Goodman trat einen Schritt zurück. Er zitterte, doch zugleich kam es ihm so vor, als habe er eine große Leistung vollbracht. Seine Schuhe rutschten quietschend durch das Blut, während sein krimineller Geist immer mächtiger wurde und er sich mit rasender Geschwindigkeit zu verstehen bemühte, was er da eigentlich gerade getan hatte. Wisch zuerst das Blut auf. Nein, nein. Mach das, nachdem du Jamie aus dem Fenster geworfen hast. Dann mach alles sauber, geh mit einem Bleichmittel drüber und
räuchere die Wohnung aus. Handschuhe … Du wirst Handschuhe und einen Atemschutz brauchen.
Goodman kramte im Fach unter der Spüle herum, bis er ein Paar Gummihandschuhe und einen kleinen Stapel einfacher Schutzmasken aus Stoff gefunden hatte. Masken wie diese hatte er zum letzten Mal vor sechs Jahren benutzt, als er die Küche neu gestrichen hatte. Er schüttete flüssiges Bleichmittel über die Handschuhe und ging ins Gästezimmer – wobei er das unangenehme Gefühl in seinen Eingeweiden ebenso ignorierte wie
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