Das Ende der Geduld
angegeben, dass brutale Übergriffe auf Straßen und Plätzen häufiger zu verzeichnen waren. Hier ergibt sich ein Zuwachs von 9,1 Prozent. Ein ähnliches Bild ergebe sich bei Sachbeschädigungen, die sich auf 6,6 Prozent erhöht haben. Die Jugendkriminalität sank statistisch bundesweit um 5,9 Prozent, wobei man wissen muss: Alle Zahlen stellen sich als Vergleiche zum Vorjahr dar. Selten wird der Öffentlichkeit bei der Präsentation der Zahlen ein Langzeitvergleich zur Verfügung gestellt, und es erfolgt auch kaum die Berücksichtigung des demografischen Faktors bei der Bewertung jenes Rückganges der Jugendkriminalität - jedenfalls nicht in einer für die Öffentlichkeit verständlichen Weise.
Die polizeiliche Kriminalstatistik für 2009 lag mir zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Buches noch nicht vor. Ich prognostiziere für den Bereich der Jugendkriminalität weiter sinkende Zahlen, die nicht überall im Land mit der Lebenswirklichkeit in Vereinbarung gebracht werden können. Selbst aus Polizeikreisen ist inzwischen zu vernehmen, dass die Statistik Verzerrungen unterliegt, die ein realistisches Abbild der Kriminalitätslage verhindern. So sei zu bedenken, dass z. B. nicht jede E-Bay-Betrügerei als einzelne Tat erfasst wird. Sind mehrere gleich gelagerte Taten einer Person zuzuordnen, wird eine Betrugsanzeige angefertigt. Dann geht z.B. bei einer Serie von 100 Einzelakten gegebenenfalls eine Tat in die Statistik ein. Darüber hinaus werden die Delikte erst statistisch erfasst, wenn die Verfahren bei der Polizei abgeschlossen sind. Das wirkt sich bei schwierigen Ermittlungen oder Tätern, die in Serie strafbare Handlungen begehen, aus. Die möglicherweise im Jahr 2009 begangenen Taten gehen nicht in die jeweilige PKS ein, weil der Sachbearbeiter immer neue Vorgänge verbinden muss. Die Hoffnung, dass die Statistik der erfolgten Verurteilungen eine realistische Einschätzung bezüglich der Anzahl der jährlich begangenen Taten zulässt, erfüllt sich leider ebenfalls nicht. Auch hier werden nur die verfahrensgegenständlichen Delikte, aber nicht deren genaue Anzahl erfasst.
Andere Zeiten - ander Fakten
Pankow - eine »rechte Hochburg« der neunziger Jahre
Ich begann meine Arbeit als für den ehemaligen Arbeiterbezirk Pankow zuständige Jugendrichterin nicht allzu lange nach der Wende. Pankow gehört zum Ostteil der Stadt. Manche Menschen dort gaben sich Anfang der neunziger Jahre noch der Idee hin, der Staat werde das Problem mit den Arbeitsplätzen schon richten. So war ja schließlich schon immer gewesen. Aber die Realitäten sahen rasch anders aus. Viele Betriebe schlössen, Arbeitslosigkeit kam auf. Die Familien waren zunehmend auf Sozialhilfe angewiesen. Die Eltern begannen zu trinken und auf das System zu schimpfen. Während des Hadems und Zeterns verwahrloste manche Wohnung in rasender Geschwindigkeit. Wenn dann die Polizei und das Jugendamt gerufen wurden, fanden sie zunehmend die Kevins und Kimberlys vor, die auf einem Müllberg hausten. Nicht selten hatten sie Striemen auf dem Gesäß. Wahrscheinlich, weil sie das letzte Gelage gestört hatten. Vielleicht hatten sie auch bloß Hunger oder Durst oder wollten zum Spielen mit anderen Kindern. Wenn sie aber doch gebraucht wurden, um Bier zu holen? Dass Kimberly früh den Haushalt verlässt, ohne nennenswert beschult worden zu sein, Büstenhalter bei H&M sowie Kosmetika bei Schlecker klaut, mit sechzehn erstmals schwanger ist, trinkt oder Heroin drückt, auf den Strich geht und mit zwanzig Jahren drei Kinder hat, die seinerzeit in Pflegefamilien untergebracht werden konnten, weil es sich noch nicht um ein Massenphänomen handelte, soll hier nicht weiter erläutert werden. Aus Jungen wie Kevin ist oft einer von denen geworden, die woanders Halt suchen, nachdem die positive Identifikationsfigur des arbeitenden Vaters abhandengekommen war. Die männlichen deutschen Jugendlichen - nichtdeutsche gab es zu diesem Zeitpunkt im Ostteil der Stadt kaum - verloren zum Teil die Orientierung, suchten Halt und Vorbilder, und binnen Kurzem hatte sich eine sichtbare rechte Szene gebildet. Die Bomberjacken und Springerstiefel etablierten sich. Die Haare wurden abrasiert.
Pankow bereitete uns Jugendrichtern Anfang bis Mitte der neunziger Jahre deshalb erhebliche Probleme. Konkret: Die Glatzen zogen durch die Gegend und schlugen mit Baseballkeulen alles kurz und klein, was auf sie entweder fremdländisch oder „asozial" wirkte. Die in der rechten Szene bis heute
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