Das Ende der Geduld
keine hoffnungsfroh stimmenden Ausführungen bezüglich des Integrationsprozesses, dachte ich in diesem Moment. Da fangen wir bei jeder „fremden Braut", wie Neda Kelek in ihrem gleichnamigen Buch eindrucksvoll unter Beweis stellt, wieder ganz von vorn an. Kinder und Küche - dieses Leitbild für Frauen aus den fünfziger Jahren läge längst hinter uns, hatte ich gedacht.
Typische Intensivtäterkarrieren
Die meisten der zur Zeit etwa 550 Intensivtäter, die bei der Berliner Staatsanwaltschaft registriert sind, wohnen und „wirken" in Neukölln. Es sind gegenwärtig 214. Zur Erinnerung: Als Intensivtäter werden nur Personen bezeichnet, die innerhalb eines Jahres mindestens zehn erhebliche Delikte begangen haben. Diejenigen, die also knapp unterhalb dieser Grenze liegen, werden zwar als Mehrfachtäter angesehen, finden jedoch in der Intensivtäterstatistik keine Berücksichtigung. Schwerkriminelle, die häufig 30 und mehr erhebliche Taten aufweisen, haben zu etwa 90 Prozent einen Migrationshintergrund, 45 Prozent sind „arabischer" Herkunft, 34 Prozent haben türkische Wurzeln. Diese Tatsachen sind insofern von Bedeutung, als etwa 10.000 „Araber" in Neukölln leben, aber mehr als viermal so viele türkischstämmige Menschen. Die „Araber" stellen also gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil mit weitem Abstand die Mehrheit der Intensivtäter. Deutsche Vielfachtäter gibt es in Neukölln kaum. Auch außerhalb des Bezirkes spielen sie quantitativ keine nennenswerte Rolle.
Die Leser haben mit Yilmaz, Hussein und Kaan bereits Intensivtäter kennengelernt. Deren Geschichte ist jeweils unabhängig von der Größe ihrer Familie. Mehrere Besonderheiten, die in ihren Lebensläufen zum Ausdruck kommen, kennzeichnen auch andere Lebensläufe, wobei es hier vornehmlich um Familien geht, aus denen zahlreiche Mehrfachtäter hervorgehen.
Die Jugendlichen entstammen den vor vielen Jahren aus dem Libanon oder der Türkei zugewanderten Familien mit sechs Kindern und mehr. Viele Einwanderer haben inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit, und die meisten leben vom Kindergeld und staatlichen Transferleistungen. Die Mütter haben nie Deutsch gelernt. Sie überlassen speziell die Jungen schon früh sich selbst, wobei dies nicht auf mangelnde Fürsorge, sondern mehr auf eine kulturelle Tradition zurückzuführen ist. Söhne sind kleine Männer und stehen deshalb über den Töchtern. Diese werden einer starken Kontrolle unterzogen, die zum Teil auch durch die Brüder ausgeübt wird. Die Mädchen sind manchmal sehr klug und nutzen ihre Zeit daheim sinnvoll, um zu lernen. Sie überflügeln ihre Brüder zunehmend bei den schulischen Leistungen, was die Jungen nicht zufriedener macht. Hinzu kommt, dass den Jungen die Identifikationsfigur des arbeitenden Vaters abhandengekommen ist. Dieser Umstand geht mit einem entsprechenden Autoritätsverlust einher und lässt die Söhne zunehmend die Orientierung verlieren. Während die Töchter oft sehr erfolgreich versuchen, eine Qualifikation für den ersten Arbeitsmarkt zu erlangen, und dabei hoffen müssen, nicht verheiratet zu werden, treiben sich die Brüder im Kiez herum, während die Mutter sie irgendwo im inzwischen weitverzweigten Verwandtschaftskreis wähnt und der Vater im Teehaus sitzt. Es kommt zu ersten Straftaten, die überwiegend aus der Gruppe heraus begangen werden. So abstrakt hört sich das zunächst harmlos an. Aus der Opferperspektive sieht es jedoch anders aus, wenn man mit einem Schlagring, einem Gürtel oder mit einer Eisenstange zusammengeschlagen wird, weil man einen Araber angeblich zu lange angeschaut hat. Oder wenn eine alte Dame zu später Abendstunde um etwas Ruhe bittet und dann von drei „Arabern" ins Gesicht geschlagen wird. Oder wenn der Polizeibeamte, der eine Anzeige aufnehmen muss, weil die Jugendlichen einen Zeitungsständer angezündet haben, zu hören bekommt: „Ich scheiß' auf Deutschland. Du bist Dreck unter meinen Schuhen. Du bist tot." Oder wenn ein Lehrer im Rahmen seiner Pausenaufsicht einen schulfremden Jugendlichen des Hofes verweist und dieser dem Lehrer mit den Fäusten in das Gesicht schlägt und mit den Füßen in den Unterleib tritt.
Das sind nur einige „Einstiegstaten" der Intensivtäter, die zu diesem Zeitpunkt oft noch nicht strafmündig sind - ebenso wie bei Yilmaz, Hussein und Kaan, die ähnliche Vorgeschichten aufweisen. Was geschieht daraufhin? Die Leser kennen das schon, auch von der Geschichte der Lehmanns. Manchmal wird
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