Das Ende der Liebe
könnte.
Noch vor nicht langer Zeit befand der Mensch sich im Kampf mit der Ordnung. Heute befindet der Mensch sich vornehmlich im Kampf mit sich selbst . Auch wenn er mit anderen lebt, ist er einsam, einsam in diesem Kampf. Während Religiosität und Tradition notwendig das Bewusstsein einer Gemeinschaft [40] darstellen, ist Vernunft immer nur die eigene Vernunft, Denken immer nur das eigene Denken. Während Gebote und Verbote notwendig Gebote und Verbote anderer sind, sind Möglichkeiten immer nur die eigenen Möglichkeiten.
Gesellschaft war einst gleichbedeutend mit Grenzen: Klassengrenzen, Geschlechtergrenzen, Grenzen zwischen Milieus, Stilen und Berufen, moralischen Grenzen, Verboten und Geboten, Grenzen der Macht. Die Gesellschaft war ein Hindernis . Wer heute die Gesellschaft als Hindernis für sich bezeichnet, gerät in den Verdacht, sich herausreden zu wollen. Er schämt sich. Er denkt: Eigentlich liegt es an mir. Die Gesellschaft als Hindernis scheint verschwunden. Jetzt ist sie Gelegenheit, Möglichkeit.
Die Menschen haben den Glauben an alle Soziologie verloren, an die Gesellschaft als Hindernis, an alles Feste. Sie sagen: »Gesellschaft? So etwas gibt es nicht!« Jetzt glauben sie an die Macht der Psychologie, an die Gesellschaft als Möglichkeit. Sie leben in einer flüssigen Welt. Sie glauben an die Bewegungsfreiheit: Jeder Mensch komme überall hin, hinein und nach oben.
Die Erfolglosen und die Arbeitslosen glauben nicht mehr an die Hindernisse eines »Systems«, an Klassengrenzen. Sie fürchten, es liege an ihnen selbst.
Die Frauen glauben nicht mehr an die Frauenfeindlichkeit, an Geschlechtergrenzen. Sie fürchten, es liege an ihnen selbst.
Die Konsumenten wollen die Welt verändern. Sie glauben, dass sie es könnten, es müssten. Sie tragen die Verantwortung.
Die Kranken glauben, sie hätten sich selbst krank gemacht: zu viel Stress, schlechte Ernährung, unterdrückte Gefühle. Sie glauben, sie könnten sich selbst heilen, durch die richtige Einstellung, die richtige Methode, Konzentration und Selbstdisziplin. [41] Sie visualisieren den Tumor und zerschießen ihn in Gedanken.
Jeder glaubt, er könne es schaffen. Ruhm, Reichtum, Gesundheit, Kreativität.
Die Liebessuchenden glauben, sie könnten die Liebe finden – wenn sie nur gründlich genug suchten und hart an sich selbst arbeiteten.
Die Welt ist verschwunden. Was war die Welt? Alles Fremde, Nichtselbstgemachte, jeder Widerstand, das Absurde.
Die Einsicht ist verschwunden, dass es ein Schicksal gibt, für das der Mensch nicht verantwortlich ist, für das er sich nicht schämen muss; dafür, dass er keinen Erfolg hat, dass andere Menschen ihm mit Ablehnung begegnen, dass er nicht die Liebe findet, dass er krank wird und vor der Zeit stirbt. Die Einsicht, dass der Mensch keine unbegrenzten Möglichkeiten hat.
Tatsächlich gehört schon der Körper des Menschen nicht mehr zu seinem Selbst, sondern ist ein Fremdes, Nichtselbstgemachtes – wie die Berge am Horizont. Der Körper macht, was er will, nicht, was der Mensch will. Auch die Gedanken gehören großteils schon nicht mehr zum Selbst, sondern sind ein Fremdes, Nichtselbstgemachtes – wie die Wolken am Himmel. Die Gedanken machen meist, was sie wollen, nicht, was der Mensch will. Sie bewegen sich hierhin und dorthin, sie werden hell und dunkel, und der Mensch sieht dabei zu.
Der Großteil des Geistes, der Körper, die Gesellschaft, die Natur – das war die Welt, die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten. Doch jetzt scheint alles formbar, alles durchlässig, alles möglich.
Alle äußeren Gegenstände erscheinen als innere. Wo Welt war, ist jetzt meine Wahl . Wo Schicksal war, ist meine Kraft , es zu überwinden.
[42] Auch die Freiheit wird als etwas Inneres verstanden, als ein offener, leerer Raum, den die Menschen nach Belieben betreten und ausfüllen können. So sagt man: »Der Mensch ist frei.« Als sei die Freiheit eine Eigenschaft des Menschen, ein Inneres, während allein der Zwang, beispielsweise in Gestalt einer Mauer oder eines Wächters, ein Äußeres sei, so dass man sagt: »Der Mensch wird gezwungen von etwas .«
Tatsächlich ist Freiheit aber keine Eigenschaft des Menschen, sondern ebenso ein Äußeres, eine höhere Gewalt, wie die Unfreiheit. Sie stellt Menschen, anstatt vor Mauern, vor Möglichkeiten.
Das Zwangssystem der Freiheit ist zwar allen Zwangssystemen der Unfreiheit vorzuziehen. Doch es taugt ebenfalls dazu, Menschen ins Unglück zu
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