Das Ende der Liebe
drahtloses Internet. Sie sagt: »1983 haben sich dann meine Eltern …« Er schaut unbeirrt auf den Bildschirm. Sie sagt: »Was tust du da eigentlich?« Er sagt: »Ich vergleiche dich.«
Auch Menschen, die ihren Laptop nicht dabei haben, haben ihre Erinnerungen. Sie haben eine drahtlose Verbindung zu ihrem Gedächtnis.
[34] In einem Buch mit dem Titel »Millionen Frauen warten auf Dich« erzählt ein Mann, wie seine Partnersuche im Internet beginnt. »Ich werde es mit der Agentur Udate.com versuchen, schlicht wegen ihrer angeblichen Größe (4,5 Millionen Abonnenten!), und mit DatingDirect, weil sie verspricht, die größte Auswahl von Singles in Großbritannien zu haben.
Der Zugang ist offenbar einfach. Nach wenigen Klicks bin ich eingeloggt. Ich kann schon unter einigen der Frauen ›stöbern‹ (oh, die ist hübsch!) …«
»Eine Menge wohnt anscheinend in meiner Nähe, mitten in London. Ich werde schon ganz aufgeregt, wenn ich nur an sie denke. Das heißt doch, ich brauchte nur um die Ecke zu biegen und könnte mich verlieben, einfach so!
In den nächsten Stunden verschicke ich etwa ein Dutzend E-Mails an eine Auswahl dieser regionalen Schönheiten, diesen Mädels in meinem Städtchen. Innerhalb weniger Minuten sehe ich die erste, die allererste Anzeige oben auf meinem Schirm blinken. Lyonshall , steht da, du hast eine Mail bekommen .«
»Nach drei Gläsern Kneipenwein erzählt sie doch echt einen schmutzigen Witz …«
»Wir verstehen uns fabelhaft. Und zwar so fabelhaft, dass ich mich fast selbst beglückwünsche, als ich auf dem Klo in den Spiegel schaue. Ich kann es mir gerade noch verkneifen. Dennoch, ich fühle mich saugut. Ich weiß nicht genau, ob das am Wein oder am Abend oder daran liegt, dass ich ein hoffnungsloser Optimist bin, wenn es um Liebe und Leidenschaft geht, aber diese Frau ist anrührend und sexy zugleich. Außerdem hat sie etwas liebenswert Schüchternes an sich … eine gewisse Zurückhaltung, die zu dem Grübchen an ihrem Kinn passt.
Als ich an unseren Tisch zurückgehe, habe ich einen Entschluss gefasst. Es ist zwar unser erstes Date, doch ich mag [35] sie und glaube, sie mag mich auch, und ich werde versuchen, sie zu küssen.«
Die Menschen glauben, Entschlüsse zu fassen. Sie glauben, Möglichkeiten wahrzunehmen. Tatsächlich aber fallen sie auf ihre Möglichkeiten zu wie Steine zu Boden.
Die Freiheit, jemanden zu küssen, ist tatsächlich der Zwang, jemanden zu küssen. Die Menschen, die ihre Freiheit nutzen, müssen sie nutzen. Sie müssen trinken und müssen küssen. Die Geschwindigkeit der Menschen in der Freiheit ist die Geschwindigkeit des freien Falls. Die Menschen tun alles beim ersten Mal. Wie auch der Stein beim ersten Mal zu Boden fällt. Auch er kann nicht warten in der Luft.
Eine Frau und ein Mann haben sich häufiger in der U-Bahn gesehen. Eines Abends begegnen sie sich im Theater. Sie trinken Wein, erzählen sich (wie man so sagt) ihr Leben und beschließen, (wie man so sagt) die Nacht gemeinsam zu verbringen.
Die Frau sagt: »Wir wollen uns nicht einreden, dass wir es auch bleiben lassen könnten. Tatsächlich haben wir keine andere Wahl. Alles, was wir uns sagen können, müssen wir uns jetzt sagen. Was getan werden kann, muss sofort getan werden. Alles, was eine Möglichkeit ist, ist in Wahrheit ein Zwang, ein gesellschaftliches Gesetz – der Wein, das Gespräch, die gemeinsame Nacht. Lass uns gehen.«
Der Mann sagt: »Du hast Recht, gehen wir. Wir können uns ja vom Zwang befreien, indem wir nach der Nacht den Kontakt abbrechen.«
Die Frau sagt: »So wird es sein. Wir werden uns alles geben, sogar die Hoffnung. Dann werden wir uns aus dem Weg gehen. Denn auch das ist ein Zwang, gesellschaftliches Gesetz.«
[36] Man stelle sich vor!
Das Zeitalter der Nichtliebe hat begonnen. Der historische Zenit der Liebe ist überschritten. Kein Mensch wird mehr auf die Dauer lieben, die meisten nicht einmal für die kürzeste Zeit. Alle sogenannte Liebe ist nur noch Restliebe, alle sogenannte Zufriedenheit nur noch Restzufriedenheit.
Die Menschen müssen sich überwinden, mit einem Anderen zusammenzubleiben, sich mit einem Anderen zu bescheiden, es mit einem Anderen auszuhalten. Aber sie wollen sich nicht mehr überwinden. Denn sie sind freie Menschen.
[37] ZWEI
DAS ZEITALTER DER UNENDLICHEN FREIHEIT
Das zweite Kapitel: in dem das Buch wechselt von der Nahaufnahme zur Vogelperspektive; in dem die Epoche geschildert wird, in der die Liebe verschwindet, die
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