Das Ende der Liebe
Konsequenz.
In Zeiten, da man seine Gefühle unterdrückte, man aus Gründen der Moral und Ehre am Alten festhielt, man nicht tat und tun konnte, was man wünschte und wollte, da hatte der Roman die Aufgabe, die Gefühle und den Willen der Menschen sichtbar zu machen, indem er von Menschen erzählte, die sie auslebten. Heute aber werden alle Romane von der Realität übertroffen. Die freien Menschen folgen ihren Gefühlen bis zum Schluss. Sie leben als Äußerstes ihres Innersten. Sie gehen bis an ihre Grenzen – und zeigen damit allen, wo ihre Grenzen sind. Sie machen Medienkarrieren. Sie leben in Ladenlokalen. Sie stellen ihre Stühle auf die Straße. Sie stellen ihr Innerstes aus.
Sie wollen romanhaft lieben, doch romanhaft lieben sie nicht. Sie würden ihr Leben umwälzen für die Liebe. Sie sagen immer, was sie fühlen, sie schreien es heraus. Sie werden Mitglied in Liebesgruppen, Liebessekten. Sie nehmen an Orgien teil. Sie sind Mitglied in Orgienvereinen, Swingerclubs . Sie weigern sich, länger als eine Woche unglücklich zu sein – und trennen sich also. Sie weigern sich, länger als zwei Stunden ihre Sehnsucht auszuhalten – und haben Sex mit Unbekannten. Sie sitzen onanierend vor dem Computer.
Die freien Menschen leben romanhaft und sterben romanhaft. Sie betreten in Armeekleidung eine Schule und schießen drauf los, sie steuern Passagierflugzeuge in die Hochhäuser einer Großstadt. Wären Romane denkbar, die eine größere Konsequenz entfalteten, deren Logik unerbittlicher wäre?
Die Motive des Romans und die Motive der freien Menschen sind tatsächlich die gleichen: alle Fantasien zu realisieren, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Die freien Menschen sind Fantasienrealisierer. Sie haben permanent Fantasien. [51] Doch der entscheidende Unterschied zu ihren Vorfahren ist weniger diese rege Fantasietätigkeit als die systematische Aufhebung des Unterschieds zwischen Fantasie und Wirklichkeit, die selbstverständliche Erwartung, die eigenen Fantasien sämtlich und restlos zu realisieren.
In der unbegrenzten Freiheit fallen Roman und Leben in eins. Die freien Menschen sind übertriebene literarische Figuren – die in der Wirklichkeit haufenweise vorkommen.
Die freien Menschen brauchen keine revolutionäre Bewegung mehr, keinen Staat, um ihre Möglichkeiten zu verwirklichen. Sie haben alles Totalitäre überwunden durch Hoffnung. Sie rufen nicht mehr nach der Gesellschaft, sondern appellieren an sich selbst , die eigene Geduld, Disziplin, Kreativität. Sie brauchen weder das Volk, noch die Menschheit. Die Menschen glauben an das eigene Glück. An das eigene Unglück.
Sie sagen: »Ich habe es geschafft.«
Sie sagen: »Es ist allein mein Fehler gewesen.«
Die Menschen denken sich das Glück nicht mehr als eine gesellschaftliche Utopie, sondern als persönlichen Erfolg und als erotische Liebe. Sie denken sich das Unglück als Erfolglosigkeit, als das Verfehlen von Liebe. Als ein doppeltes Scheitern.
Die freien Menschen haben von der Revolution, die ihr Leben und Lieben unmöglich gemacht hat, keine Kenntnis genommen als die Kenntnis des Leidens, des Schmerzes. Wenn sie etwas analysieren, dann sich selbst. Die absolute Freiheit der Menschen bedeutet: Die Menschen erfahren die Gesellschaft nur noch vermittelt – durch ein Massenmedium namens Psyche , namens Selbst oder Ich.
Sie sagen: »Ich habe ein Motivationsproblem.«
Sie sagen: »Ich kann mich nicht für eine Frau, einen Mann entscheiden. Ich bin entscheidungsunfähig.«
[52] Sie sagen: »Ich bin unfähig, den Richtigen zu finden. Ich bewege mich nicht genug.«
Sie sagen: »Ich kann nicht lieben.«
Die Menschen sind frei, nicht weil das ihrem Charakter oder ihrer Generation entspräche, sondern weil es der Welt entspricht, in der sie leben. Sie können die Freiheit, die ihnen aufgezwungen ist, ablehnen – und doch bleiben sie frei. Was sie charakterisiert, liegt außerhalb ihrer selbst, ihrer Psychologie. Die freien Menschen sind frei auch gegen ihre Überzeugung, wider ihren Willen. Sie sind als Menschen nicht zu begreifen. Man muss die Welt begreifen, in der sie leben.
Diese Revolution ist auch deshalb so viel schwerer wahrzunehmen als alle Revolutionen vor ihr, weil sie nur etwas beseitigt hat, nichts an dessen Stelle getreten ist; weil die neue Wirklichkeit, die sie geschaffen hat, die Möglichkeit von Wirklichkeiten ist. Andere Revolutionen haben Tatsachen geschaffen. Diese Revolution schafft Möglichkeiten. Da ist nur eine Weite,
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