Das Ende der Liebe
unbegrenzten Möglichkeiten haben also drei Dimensionen. Die Menschen sehen sich jeder einzelnen Möglichkeit gegenüber als absoluter Möglichkeit, sie sehen sich anderen Möglichkeiten gegenüber als Alternativen und sie sehen sich allen Möglichkeiten als Summe gegenüber. Dabei sehen sie die Summe als weitere Möglichkeit – schon weil sie, wenn sie eine Möglichkeit realisieren würden, nicht nur auf eine verzichten müssten, sondern auf alle, die Unendlichkeit. Wer sich für einen Partner entscheidet, muss nicht nur auf einen anderen verzichten (auch wenn der Konflikt sich an der Oberfläche so darstellen mag), sondern auf alle anderen, auf die Unendlichkeit. In der Negation des Verzichts entsteht die Unendlichkeit als Möglichkeit. Folgerichtig wird sie für die Menschen auch eine positive, reale Möglichkeit. Diese Möglichkeit ist es – die Möglichkeit der Unendlichkeit der Möglichkeiten – der tatsächlich nichts mehr entgegensteht.
[58] Die Menschen bilden entweder lange Reihen, nehmen also unendlich viele Möglichkeiten wahr (sie ziehen von einer Stadt in die nächste; sie wechseln die Berufe und in den Berufen die Spezialisierungen, sie werden vom Maler zum Videokünstler und vom Videokünstler zum Bildhauer; sie wechseln die Partner). Oder sie suchen nach dem einen unendlichen Objekt, nach der Gesamtkunst, die alle Künste in sich birgt, nach der ungeheueren Tat, die alle Taten ist, der einen Stadt, die alle Städte ist, dem Partner, der alle Partner ist.
Sie suchen nach einem Objekt, das keinen Verzicht auf die Unendlichkeit bedeutet, nicht bloß Perfektion, sondern die Summe alles Perfekten. Vielmehr: das Gegenteil des Perfekten – denn Perfektion ist ja Vollendung, also endlich. Die Menschen suchen eine Unendlichkeit von Vollendungen.
Tatsächlich machen sie beides: Sie bilden unendliche Reihen von endlichen Objekten und sie suchen nach dem unendlichen Objekt. Sie versuchen, sich der Unendlichkeit von zwei Seiten zu nähern, sie als Weg und Ziel zu realisieren.
Die Menschen verlieren zwar jede Möglichkeit an die nächste Möglichkeit und an die Möglichkeit der Unendlichkeit der Möglichkeiten. Doch zugleich behaupten sie ihren aufrechten Gang, ihr freies Bewusstsein, gegen den freien Fall. Sie fallen auf einen Menschen, eine Versuchung zu, wollen aber keine Gefallenen sein. Sie rebellieren gegen die Schwerkraft ihrer Möglichkeiten. Was sie anzieht, stößt sie ab.
Sie behaupten ihre Freiheit also im Widerstand gegen ihre Freiheit. Sie lehnen ab, was sie wollen. Sie nehmen die je nächste Möglichkeit wahr, um sich von je dieser zu befreien. Ihre Freiheit besteht nur darin, den Planeten, auf den sie zufallen, zu wechseln; darin, zu wählen, ob sie auf einen oder auf alle zu fallen wollen.
[59] Die Menschen fallen buchstäblich von einer Beziehung in die Nächste: Sie trennen sich von Einem, entweder um mit einem Anderen eine Beziehung einzugehen oder um – erneut – mit der Unendlichkeit der Anderen eine Beziehung (namens Sehnsucht) einzugehen, eine Zeitlang mit der Unendlichkeit zusammen zu leben. Die Menschen sind nie allein. Sie haben entweder eine Beziehung mit einem oder eine Beziehung mit allen.
Die freien Menschen kennen dementsprechend drei Zustände. Den absoluten Möglichkeiten, denen die Menschen nichts mehr entgegenzusetzen haben, entspricht das absolute Verlangen , also eine schmerzhafte Sehnsucht, die Erfüllung in der Fantasie, der Konsum, der Rausch, die Sucht und die Scham über die eigenen »Schwächen«.
Den Möglichkeiten, die sich gegenseitig ausschließen, entspricht die Blockade , also der Zweifel und das Zögern, das Nichtstun und Abwarten.
Der Möglichkeit der Unendlichkeit der Möglichkeiten schließlich (die die Blockade in gewisser Weise aufhebt), entspricht die endlose Suche , also ein Immer-in-Bewegung-Bleiben, das wiederum mit einer schmerzhaften, jedoch ausschließlich in der Fantasie zu erfüllenden Sehnsucht verbunden ist, sowie mit der Schuld, die erwächst aus der Treulosigkeit gegenüber allen Menschen, Dingen, Tätigkeiten.
Tatsächlich bewegt sich das Bewusstsein der Menschen immerzu in diesem Dreischritt: Es entsteht ein absolutes Verlangen (angesichts eines möglichen Partners, Erfolges oder Produktes); augenblicklich wird das Verlangen aufgehoben durch die Blockade (angesichts anderer möglicher Partner, Erfolge, Produkte); und schließlich wird die Blockade aufgehoben durch die endlose Suche (angesichts der Unendlichkeit der möglichen
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