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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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ein Nichts, das alles zu verheißen scheint.
    Aus Strukturen der Begrenzung sind Strukturen der Ermöglichung geworden. Die Strukturen verweisen den Menschen nicht mehr auf einen – gesellschaftlichen, kulturellen oder geschlechtlichen – Platz, sondern nur auf seine Möglichkeiten. Freiheit ist nicht mehr zu denken als die Abwesenheit von Institutionen (wie in naiven Utopien), als die Abwesenheit von Eltern, Schule, Polizei, Industrie, Kapital – sondern als die Durchlässigkeit der Strukturen, die »sich öffnen«, »Angebote machen«, die »fördern« und »heilen«, die »möglich machen«. Die Strukturen sagen nicht mehr: »Trage die Uniform der Macht und folge der Doktrin!« Sondern: »Sei du selbst!« Sie äußern die paradoxe Erwartung, dass der Mensch sich an Erwartungen nicht halte. Sie befehlen den Widerstand. [53] Sie prüfen (als Fernseh-Jury), ob der Mensch der Erwartung entspricht, alle Erwartungen zu ignorieren. Ob er ganz er selbst sei.
    Jede Struktur ist selbst nur eine Möglichkeit unter vielen. Die Menschen müssen sich zwischen Eltern entscheiden (bei welchem Elternteil sie wohnen wollen, auf welchen Elternteil sie hören wollen), sie müssen sich zwischen Schulen, Industrien und Staaten entscheiden. Sie könnten immer woanders hingehen – jedenfalls scheint es ihnen so. Es gibt nicht nur ein Schloss, das über dem Land thront und es beherrscht, sondern es gibt unendlich viele Schlösser; zu jedem Schloss gibt es ein Gegenschloss, eine Alternative, eine Gegenkultur, eine mögliche, erlaubte Verweigerung.
    Und auch das Möglichmachen der Strukturen ist nur eine Möglichkeit – um die die Menschen sich selbst bemühen müssen. Die Förderung und Heilung müssen die Menschen selbst in die Wege leiten, selbst suchen und wählen. Das bedeutet: Es gibt doch eine Abwesenheit der Strukturen. Wenn die Menschen im Bett bleiben, passiert nichts. Kein Aufseher platzt in den Schlafsaal, brüllt und reißt den Müden die Decke weg. Die Strukturen greifen nicht mehr aus, sondern setzen voraus, dass die Menschen zu ihnen kommen. Sie stehen herum als reine Möglichkeiten. Die Türen sind offen, wie die Türen eines Wahllokals. Keiner holt die Menschen ab. Keiner hält sie an, ihre Wahl zu treffen.
    Die Menschen stehen also zwischen den unendlichen Möglichkeiten – der Entwicklung, des Erfolgs, der Liebe – und der Möglichkeit, dass nichts passiert, der Möglichkeit des Nichts. Sie müssen sich entscheiden, jeden Tag: aufstehen und aufsteigen? Oder liegen bleiben? Es gibt jederzeit die Möglichkeit der Arbeitslosigkeit, eines arbeitslosen Tages, einer arbeitslosen [54] Woche, eines Tages im Bett, einer Woche allein, einer Phase des Nichtstuns und des Nichtkontaktes, der Einsamkeit und Depression. Die Menschen wissen davon, wie sie von ihren unendlichen Möglichkeiten wissen.
    Tatsächlich gehört die Möglichkeit, nichts zu tun, zu den unendlichen Möglichkeiten. Alles Getane und Erreichte ist darum so erstaunlich , hat einen solchen Glanz, weil es auch die Möglichkeit gab, nichts zu tun, weil das Getane die Überwindung der Möglichkeit ist, nichts zu tun. Jede Liebe wird bewundert als überwundene Einsamkeit, jede Arbeit als überwundene Depression. Die Menschen sagen: »Das ist aber erstaunlich! Er hat nicht nichts getan. Er hat sein Nichtstun endlich überwunden. Er hat, anstatt weiter nichts zu wählen, anstatt das Nichts zu wählen, etwas gewählt.«
    Freiheit ist also die Möglichkeit des Nichts, die permanente Drohung des Nichts, der leer verlaufenden Zeit. Vielmehr: Freiheit ist das Nichts, das fortlaufend überwunden werden muss.
    Die Menschen sind in einem leeren Raum (ja, es gibt nicht einmal den Raum) und denken über eine Schöpfung nach, einen Anfang. Es gibt nicht einmal die Zeit, nur Dunkelheit. Wenn die Menschen den Tag nicht beginnen, gibt es keinen Tag. Wenn sie keine Woche der Schöpfung beginnen, gibt es keine Schöpfung, keine Woche. Wenn die Menschen keine Telefonnummer wählen und keine Email schreiben, gibt es keine Menschen. Wenn sie nicht motiviert sind, gibt es keine Gesellschaft, keine Strukturen.
    Die Strukturen üben Zwang aus durch Abwesenheit. Sie versetzen die Menschen in permanente Verschlafensangst, Arbeitslosigkeitsangst, Einsamkeitsangst, Depressionsangst, eine permanente Angst vor dem Nichts. Die Strukturen lassen die Menschen allein und zwingen ihnen so die Freiheit auf: die Möglichkeit des Größten und Besten und die furchtbare Möglichkeit des Nichts.
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