Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
mir läuft die Zeit davon.
Diese Gedanken schwirren mir durch den Kopf.
Ich liege angezogen im Bett.
Ich warte darauf, dass im Haus alles still wird.
Dr. Aiken ist heute nicht da, und das wusste ich auch. Meine Mutter mixt sich einen Margarita aus einem alten Tütchen, das sie ganz hinten im Schrank gefunden hat.
Später höre ich sie telefonieren, ich glaube, sie hat meinen Vater angerufen, und ich will gar nicht darüber nachdenken, was sie sich jetzt erzählen.
Ich drehe das Radio auf volle Lautstärke und wünschte, ich hätte einen Plattenspieler und die Platte von Mr. Verver mit dem Lied über den Mond und darüber, dass man gedacht hätte, die Karten würden niemals lügen.
Ich habe das Gefühl, dringend etwas tun zu müssen, etwas zerstören, den Druck wegnehmen, diesen grauenhaften Druck, dem ich mich völlig ausgeliefert fühle, dieses tonnenschwere Gewicht.
Ich spüre fast körperlich, wie Evie mir entgleitet. Das ist heute schon zweimal passiert. Einmal, als ich die beiden mit dem Regenschirm in der Einfahrt beobachtete, und dann noch mal mit Dusty, als sie mit mir redete und ich ihr fast geglaubt hätte.
Ich spüre fast körperlich, wie sie mir entgleitet.
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15.
M eine Hände liegen auf einem der hinteren Fenstersimse, über der Zierleiste. Ich habe die Hände über alle vier Seiten des Hauses gleiten lassen. Ich habe meine Hände darangelegt wie eine Heilerin oder eine Fee.
Jetzt stehe ich da, auf Zehenspitzen, und merke, wie das Haus unter meinen Fingern summt. Ein leichtes Bodenquietschen, eine rauschende Rohrleitung.
Ich stehe um kurz nach Mitternacht vor dem Haus der Shaws, und ich gehe da jetzt rein. Ich werde da jetzt reingehen.
Wo sind Sie, Mr. Shaw? Wo sind Sie? In einer knarzenden Hütte irgendwo in Kanada, oder verstecken Sie sich hier mitten in der Stadt vor uns? Liegen Sie am Grund des Sees, oder tief in einem Wald weit weg, und wo auch immer Sie sind, haben Sie Evie dabei, unter den Arm geklemmt, Ihr Dornröschen? Ist sie überhaupt irgendwo?
Es tobt in mir, ich kriege kaum Luft. Ich kralle mich fast an der Wand fest, flehe sie an, ihr Innerstes nach außen zu stülpen, dieses Versteckspiel aufzugeben und mir alles zu zeigen. Ich bin bereit, alles zu sehen.
(Aber was, wenn es gar nichts zu sehen gibt? Wäre ja auch möglich. Was, wenn da nichts ist? Was, wenn ich schon alles weiß, was es zu wissen gibt, und der Rest ist für immer verschwunden? Daran kann ich nicht mal denken. Nicht mal denken.)
Irgendwie glaube ich, wenn sie schlafen, hören sie mich nicht. Sie werden mich schon nicht hören. Keine Ahnung, woher ich diese idiotische Gewissheit habe.
Als ich sicher bin, dass das Haus verstummt ist, als ich kein Licht mehr sehe und keine Bewegung mehr spüre und kein Flattern mehr hinter den zugezogenen Vorhängen, ziehe ich fest an dem alten Fenster, mein Gesicht schlägt gegen das Fliegengitter, ich hole das Taschenmesser aus meiner Tasche, das ich extra dafür mitgebracht habe, fahre mit der Spitze durch das Fliegengitter und zerschneide es so weit, bis ich mich durchquetschen kann.
Es geht so schnell, als hätte ich nie etwas anderes getan.
Ich trete auf Teppichboden und bin drin.
Ich denke nicht mal daran, wie verrückt das ist.
Ein Teil von mir nimmt alles wie im Traum wahr: Irgendwie bin ich einfach plötzlich da, ich bin in diesem Haus. Und ich habe überhaupt keine Angst. Aus einem unbestimmten Grund muss ich einfach hier sein.
Es ist sehr dunkel, und ich stehe in einer Art Wohnzimmer, das Licht von der Veranda spiegelt sich in einem grauen Fernsehbildschirm.
Ich mache den ersten Schritt und falle fast hin, mein Fuß rutscht über etwas Glattes, ein Hochglanzmagazin, das auf dem Boden ausgebreitet ist. Ich ziehe meine kleine Taschenlampe heraus und fuchtele hilflos damit im Raum herum: Bücherregale, ein glänzender Beistelltisch, ein paar Bürgerkriegsbücher, was gibt es da schon zu sehen?
Es scheint Stunden zu dauern, wahrscheinlich sind es Minuten, aber es kommt mir ewig vor, ich schleiche im Erdgeschoss geräuschlos von einem Zimmer ins andere: Geschirrtücher, Stehlampen, ein harter Plastikstaubsauger, im Bad ein Nachtlicht in Form einer Teekanne.
Ich stolpere wieder ins Wohnzimmer und werfe einen kühnen Blick auf die Treppe. Traue ich mich das? Nein. Ich traue mich nicht.
Ich weiß selbst nicht, was ich zu finden gehofft hatte, was die Polizei übersehen haben könnte. Aber andere Sachen hatten sie schließlich auch
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