Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
umdrehen, und das tue ich, ein Bein immer noch auf dem Sesselkissen, den anderen Fuß auf dem Boden.
In meiner Brust gibt es einen Kurzschluss, es brennt und kribbelt.
Ich drehe mich um, und da ist er.
Das Haar vom Schlaf verwuschelt, sieht er mich an, kratzt sich mit langen Fingern die Brust unter einem T-Shirt, auf dem ein großer Tacker abgebildet ist.
Auf dem Wohnzimmerteppich steht Pete Shaw.
Er starrt mich an, er ist so groß, so ein schlaksiger Highschool-Junge eben. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber ich merke, wie ich die Arme vor der Brust verschränke.
»Ich hab dich neulich schon gesehen«, sagt er. »Draußen.«
Ich kriege eine Gänsehaut. Mr. Shaws Sohn. Mr. Shaws Sohn.
»Ich habe gehofft, dass du noch mal kommst«, sagt er und schüttelt den Schlaf ab. »Ich habe darauf gewartet, dass du noch mal kommst.«
Ich lasse den anderen Fuß auf den Boden fallen und versuche, so gerade wie möglich dazustehen.
»Ich muss dir was zeigen«, sagt er und zeigt nach oben, mit einem Glitzern im Blick und gespannter Energie.
Ich weiß nicht, was ich denken soll. Es ist wie im Traum – im Traum sagen Leute ja auch Dinge, die sie in Wirklichkeit nie sagen würden, und tun Dinge, die sie nie tun würden.
»Keine Sorge«, sagt er und macht einen Schritt auf mich zu. »Sie hört nichts.«
Ich sehe ins Dunkel am oberen Ende der Treppe.
»Sie würde sogar den Weltuntergang verschlafen, bei dem ganzen Zeug, das sie nimmt«, sagt er mit harter Stimme. »Ihre Pillenfläschchen klappern die ganzen Elf-Uhr-Nachrichten durch. Sie gießt sich dreimal Wasser nach.«
Ich sehe ihn an, er ist total nervös, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Pete Shaw. In diesem Traumartigen gibt es anscheinend keine Regeln. Aber gibt es wirklich keine?
Er streckt mir die Hand hin, berührt mich aber nicht.
»Ich will dir nur was zeigen«, sagt er, und obwohl er sechzehn ist und ein Junge und das trägt, was er im Bett trägt, und ich auch, und mein Herz klopft, habe ich keine Angst, nicht so richtig.
Ich sage mir: Das ist Mr. Shaws Sohn, und ich bin jetzt hier in seiner Welt, und es ist keine schlafende Welt mehr, sondern eine lebendige, und das ist meine Chance, und, und, und …
Etwas flattert in meiner Brust, und ich muss an Mr. Verver denken, wie er sich über den Plattenspieler beugt, mich traurig anlächelt und mit den Fingern im Takt auf sein Bein klopft.
»Aber erst«, sage ich mit spitzer Stimme, die mir selbst in den Ohren wehtut. »Geht es ihr gut? Evie. Was macht er mit ihr? Meinst du … es geht ihr gut?«
Er legt den Kopf schief und beißt sich auf die Lippe. Seine Augen werden dunkel. »Ich weiß es nicht«, sagt er.
Er sieht aus, als tue es ihm leid. Aber das hilft auch nicht.
Ich folge ihm die Treppe hinauf, den Blick auf sein verblichenes rotes T-Shirt gerichtet.
Wir gehen durch den Flur zu seinem Zimmer, und mir zuckt etwas im Magen, ein Gefühl wie in einem Spukhaus, das man aber irgendwie kennt, und das ist das Gruseligste daran.
Es ist ein einsames Gefühl, das ist alles, was ich weiß.
Ich bilde mir ein, Mrs. Shaw schlafen zu hören, diesen tiefen Schlaf wie Mrs. Verver, den gedämpften Schlaf aller trauernden Mütter.
Sobald wir in seinem Zimmer sind, ist alles anders. Die violette Dunkelheit, die unheimliche Ruhe des Flurs sind weg.
Hier summt jede Menge Elektronik. Rote Lämpchen, orange, grüne, glimmen wie in einem Kontrollraum. Klobiges Schwarz, Stereoanlage, Computer, Spielkonsolen, Lautsprecher, alles Mögliche. Das Gegenteil meines Bruders. Bei Ted ist alles abgestanden und schwitzig. Hier ist es, als würde der Raum leben, er summt und atmet mir ins Ohr.
Pete schiebt mir seinen Schreibtischstuhl hin, und ich setze mich.
Ich sehe ihn an, er duckt sich unter irgendwelche Kabel, unter den silbernen Flügel eines Modellflugzeugs, das von der Decke hängt, und mir fällt plötzlich ein, dass ich nichts unter meinem T-Shirt anhabe, und dann fällt mir ein, dass es immer noch Evies T-Shirt ist, das Mr. Verver mir gegeben hat.
Auf einmal kommt mir der komische, wilde Gedanke, Pete wäre ein gestörter Killer, und im Keller läge ein Haufen toter Mädchen und Petes Eltern.
Aber dann sehe ich ihn an, die Lichter an der Wand hinter ihm blinken wie zu Weihnachten, sie flackern und blitzen in sanften Rhythmen, als wären sie Petes Atem, und ich merke, dass sie auch in mir pulsieren.
Dann wendet er sich endlich mir zu, er muss sich erst mal sammeln, seine Haut glüht, er will so viel
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