Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
übersehen.
Draußen auf dem nächtlichen Rasen, da hatte ich es gespürt. Wie ein kleines Mädchen zwischen den Falten einer Gardine, zwischen den Rockfalten seiner Mutter, hatte ich dagestanden und mich klein und dumm gefühlt, als wäre die Weisheit der Welt zum Greifen nah, direkt vor meiner Nase, auf der anderen Seite dieses Schlüssellochs, hinter dieser Tür, hinter diesen Fensterläden.
Und jetzt bin ich drin. Genau da drin. Und wo ist jetzt meine Weisheit? Wo sind die Geheimnisse der Welt?
Nirgends. Ein Haus wie jedes andere. Wie unser Haus. Oder das der Ververs.
Das ist so unfair, es macht mich fertig.
Ich muss nachdenken, irgendwas muss doch hier sein. Ich bin in seinem Haus, und irgendwas muss hier sein.
Ich lasse den Blick hierhin und dorthin schweifen, klemme mir die Taschenlampe unters Kinn, drehe mich hin und her und lasse den Lichtpunkt wandern.
Wie Einbrecher sich wohl fühlen? Es steckt so viel in einem Haus, wie kann man da in fünf Minuten oder auch fünf Stunden irgendwelche Schätze heben? Aber Einbrecher kennen die üblichen Verstecke. Ich weiß noch, dieser Exeinbrecher im Fernsehen, wie er bei jemandem durchs Haus gegangen ist und genau gezeigt hat, wo Leute ihre Wertsachen verstecken – im Nachttisch, unter der Matratze, in der Schreibtischschublade, zwischen Unterwäsche und Socken.
Aber ich weiß ja nicht mal, wonach ich suche, in meinem Kopf dreht sich alles, ich kann die Gedanken nicht davon abhalten, in meinen Ohren zu zischen, zu brutzeln und zu knistern.
Mr. Shaws Haus, Mr. Shaws Haus. Sein Wohnzimmer, sein Esszimmer, sein Arbeitszimmer. Sieht irgendwie gar nicht nach ihm aus. Irgendwie hat sich das Giebelhaus, so in sich zusammengezogen, von außen mehr nach ihm angefühlt als all das hier drinnen.
Geh nicht nach oben, flüstere ich mir beinahe selbst zu. Es fällt mir schwer, aber ich zwinge mich, mich in diesen Sessel zu setzen. Und mich zu beruhigen.
Ich lasse mich in den Sessel sinken, einen ledernen Männersessel mit hoher Lehne, und drücke das Gesicht hinein, ich setze mich auf meine Füße und schmiege mich so tief es geht in den Sessel, ziehe den Kopf ein, stecke die Finger zwischen Armlehne und Kissen, rolle mich zusammen und fühle mich, als hätte ich das Ende der Welt erreicht und nichts gefunden.
Ich versuche, mich zu konzentrieren und zu beruhigen.
Ich hole tief Luft und sehe zum Kaminsims schräg über mir, nur ein paar Zentimeter von mir entfernt.
Das Licht meiner Taschenlampe gleitet über die Familienfotos, und ich sehe Mrs. Shaw in adretten Kleidern, flotten Streifenshirts, Jeansröcken mit aufgesetzten Taschen, Basecaps im Partnerlook mit Pete Shaw, der zögerlich einen Baseball-Schläger in der Hand hält wie eine Stange Dynamit, die ihm ein Bösewicht gegeben hat.
Mr. Shaw, noch mit vollem, dunklem Haar auf einem alten Bild, das Gesicht zur Hälfte hinter einer Weihnachtsbaumgirlande, die er gerade aufhängt. Dahinter ein verblasstes Foto von Mr. Shaw vor einer mit Gras umwachsenen Wasserfläche. Der Anblick ist mir vertraut, es ist der Green Hollow Lake. Mr. Shaw hockt neben Pete, der ungefähr sieben sein muss, er hat Schwimmflügel an den dünnen Ärmchen.
Hinter ihm sind Schwimmer zu sehen, eine gelbe Luftmatratze. Die Stimmung ist friedlich. Irgendetwas regt sich in mir, ich rutsche näher heran, winde mich im Sessel, und dann bin ich sicher. Das ist meine alte »Hawaiian Punch«-Luftmatratze, und das bin ich, mit frischen Kleinmädchenwangen, ich halte mich an dem dicken weißen Seil fest, mit dem mein Bruder die Luftmatratze zieht.
Das ist alles so lustig, dass ich fast lachen muss, ich schlage die Hand vor den Mund und mache ein komisches Geräusch.
Da bin ich, zusammen mit Mr. Shaw.
Ich lasse mich wieder in den Sessel sinken, mir ist geradezu schwindelig, ich spiele mit der Taschenlampe herum und atme schnell.
Ich fühle mich gefangen. Gefangen in Mr. Shaws düsterer Welt der Liebeswirren, unter Glas gezwängt und zusammengepresst, ohne dass einer von uns davon gewusst hätte.
Genauso, wie er jetzt mit Evie irgendwo sitzt – das tut er, das weiß ich – sitze ich in seinem Sessel, meine Hände auf seinen Sachen, seine Hände auf meinen.
Plötzlich überkommt mich große Traurigkeit, und ich muss hier weg, ich kann meine Füße gar nicht schnell genug unter mir hervorziehen.
Da höre ich ihn, ein Räuspern, höre ihn, bevor ich ihn oder sonst irgendwas sehe.
Eine Stehlampe geht an.
Mein Herz bleibt stehen.
Ich muss mich
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