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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Abbott
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Arzt nie wiederkommt, jetzt, wo er gesehen hat, was er gesehen hat?
    Abhauen, nachts, spät, sein Haus so nah, die Krallen seiner Frau schließen sich um ihn. Er läuft davor weg und findet hier Ruhe, hier kann er die Beine ausstrecken, einfach lachen, und es fühlt sich gut an, so warm und schön, wer hätte das nicht gern?
    Aber dann wird das alles wieder zerschnitten. Die Nähte werden aufgerissen und er erkennt: das ganze Elend, von dem er dachte, er hätte es zu Hause gelassen, holt ihn hier wieder ein.
    Das ganze Elend kommt durch, und man meint, daran zu ersticken.
    Eine Stunde lang schlendere ich durchs Haus, vielleicht auch länger, und ich habe das Gefühl, die Zeit wäre stehen geblieben.
    Ich kann mir keine Sommertage ohne Evie vorstellen.
    Ich kann mir keinen ganzen Sommer ohne Evie vorstellen. Ich habe noch nie einen Sommer ohne Evie verbracht.
    Außerdem gießt es auch noch, und ich sehe immer wieder aus dem Fenster. Es ist fast Mittag, als ich draußen auf einmal Mr. Verver und Detective Thernstrom stehen sehe. Mr. Verver ist unglaublich blass. Ich habe noch nie ein so blasses Gesicht gesehen.
    Ich schleiche mich zum offenen Fenster und versuche zuzuhören, aber ich verstehe kein Wort.
    Mr. Verver hat eine Hand in die Seite gestemmt, und er schüttelt den Kopf, nickt und starrt zu Boden. Er ist klatschnass, und Detective Thernstrom versucht, seinen Regenschirm über ihn zu halten, Mr. Verver merkt das aber gar nicht und geht immer wieder zur Seite.
    Mir wird ganz flau im Magen, und ohne länger darüber nachzudenken, gehe ich durch die Tür und zu ihnen in die Einfahrt.
    Die beiden drehen sich zu mir um, der Regen glitzert auf Mr. Ververs Gesicht, und ich kann den Ausdruck darin nicht deuten. Als ob sein Gesicht aus Einzelteilen zusammengesetzt wäre, die kein Gesamtbild ergeben.
    Plötzlich weiß ich es, ich weiß es einfach.
    Dieser Ausdruck in seinem Gesicht, kein Blut, kein Leben, keine Emotionen mehr.
    Der Regen prasselt weiter auf ihn herab, so hart, als könne er ihn verletzen – wie eine Statue, der das Gesicht runtergewaschen wird.
    Da passiert es.
    Ich spüre, wie Evies Hand aus meiner gleitet, spüre, wie sie ganz tief hinabfällt.
    Wieso habe ich das nicht gemerkt, ich kannte sie doch so gut, ich konnte doch mein Gesicht, meinen Körper, meinen Hals, mein Herz berühren und wusste dabei, sie fühlte sich genauso an, wieso hab ich es nicht gemerkt? Sie ist mir entglitten, während ich, während ich …
    »Lizzie«, sagt Mr. Verver. Detective Thernstrom sieht mich an, der Regen tropft von seinem schwarzen Schirm.
    »Was ist los?«, frage ich, und ich merke, wie ich langsam durchweiche, ich kann mich kaum bewegen, und meine Turnschuhe laufen voll Wasser.
    Detective Thernstrom tritt auf mich zu.
    »Wir dachten, wir hätten sie gefunden«, sagt er. »Sie war es aber nicht.«
    »Gefunden«, wiederhole ich.
    »Sie haben eine Leiche gefunden, Lizzie«, sagt Mr. Verver und legt mir die Hände auf die Schultern, sie sind nass und schwer, und ich habe das Gefühl, in mir zusammenzusinken. »Ich habe vor ein paar Stunden einen Anruf bekommen, dass in Preston Hollow die Leiche eines Mädchens gefunden wurde. Wir dachten, vielleicht ist sie es.«
    Er nimmt die Hände von meinen Schultern. »Sie war es aber nicht. Sie war es nicht.«
    Detective Thernstrom versucht, den Schirm über mich zu halten. Der Regen prasselt auf den dunklen Stoff.
    »Jetzt sind wir wieder so weit wie vorher«, sagt er.
    Aber das stimmt nicht. Denn in dieser Minute – für Mr. Verver waren es Stunden – hat sich alles geändert.
    In dieser Minute hatte ich das Gefühl, Evie wäre tot. Und jetzt weiß ich, dass es tatsächlich so sein könnte.
    Mr. Verver trinkt Bier aus einer grünen Flasche. Wir sitzen in seinem holzgetäfelten Keller. Es ist inzwischen drei Uhr nachmittags, und es regnet immer noch. Wir sitzen hier schon seit Stunden.
    Ich weiß, ich sollte zu Hause sein, meine Mutter war bestimmt schon da, um nach mir zu sehen, aber ich kann einfach nicht weg hier. Ich kann nicht mal daran denken. Wir sind schon seit Stunden hier, hören dem Regen zu. Wir haben Chips gegessen und Dart und Backgammon gespielt.
    Ich trage ein T-Shirt und Shorts von Evie. Mr. Verver hat nicht gesagt, dass es ihre sind, als er sie mir in die Hand drückte, ich weiß es aber. Ich habe schon so oft Sachen von Evie angehabt, sogar genau dieses blaue T-Shirt, das ganz weich ist und verfusselt und irgendwie nach ihr riecht, nach angespitzten

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