Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
Bleistiften und Stollenschuhen und Shampoo. Die Shorts sind mir ein bisschen eng am Oberschenkel. Ich lausche auf das Geräusch meiner eigenen Sachen im Trockner und zupfe immer wieder an Evies Klamotten herum, und das ist alles so fremd und tut mir weh, und ich versuche, nicht darüber nachzudenken.
Dusty und Mrs. Verver haben bei den Großeltern übernachtet. Mr. Verver war allein, als um sechs Uhr heute Morgen die Polizei anrief. Er hat die ganze Zeit allein gewartet. Er wollte ihnen nicht Bescheid sagen.
»Ich werde ihnen nichts davon sagen«, sagt er. »Wenn es nach mir geht, brauchen sie das gar nicht zu erfahren.«
Er würde alles für sie tun. Wissen sie das überhaupt?
Sie haben ihn hier einfach allein gelassen. Sogar Dusty, sein Ein und Alles, seine Komplizin. Die Schönwettertochter hat ihn im Stich gelassen.
Aber ich bin da.
Und nun haben wir ein Geheimnis, das uns verbindet.
Im Ernst: Evie war für uns beide tot, eine Sekunde lang, eine Minute, ein paar Stunden. Sie war für uns gestorben, und dieses Wissen wiegt schwer.
Außerdem: Zumindest von mir kann ich sagen, dass ich es zugelassen habe. Ich habe es zugelassen. Ich hatte ihre Hand in meiner, und mein Griff hat sich gelockert, meine Finger rutschten ab und hielten auf einmal nur noch Luft. Ich habe sie fallen lassen.
Ich hasse mich dafür.
Ob es ihm genauso geht?
Auf dem Boden liegen alte Schallplatten, Mr. Verver schwelgt in Erinnerungen an die Zeit, als er in meinem Alter war. Zu jeder Platte gibt es eine Geschichte. Er sagt, er hat keinen Plattenspieler mehr, aber er zeigt mir die Cover.
Dann fällt ihm plötzlich etwas ein, und er kramt in der Waschküche herum, bis er in einem Karton mit der Aufschrift »Dads Sachen« einen alten Plattenspieler mit abgerissenen Kabeln findet. Zwanzig Minuten lang gehe ich ihm zur Hand, reiße Isolierband ab und reiche ihm die Stücke, und er isoliert die Kabel ab und schneidet sie zurecht, und verbindet sie schließlich mit den Boxen.
Als dann wirklich Musik zu hören ist, mir Süßholz ins Ohr raspelt und kratzt, kommt es uns vor wie ein Wunder. Wir lächeln uns an, und es ist ein Triumph.
Für ihn sind diese Platten mit Erinnerungen verbunden, aber es sind alte Erinnerungen, älter als ich, älter als Evie. Erinnerungen an seinen Vater und seine Exfreundinnen und seine Kumpels, mit denen er zu Konzerten gereist ist, zu riesigen Open-Air-Konzerten, die den ganzen Tag dauerten und sich für immer in sein Gedächtnis gebrannt haben.
Er sitzt da und streicht mit den Händen über eine Plattenhülle auf seinem Schoß.
Ich betrachte seine ausgetretenen Segelschuhe, sie sind so groß und weich, ich würde sie am liebsten anfassen, so weich sehen sie aus. Irgendwie glaube ich, dass ich sie einfach so anfassen könnte, und er würde kein Wort dazu sagen. Kein Wort.
Wir hören ein Countryalbum von seinem Vater, es klingt schrecklich traurig. Die Hülle hat Knicke, und die klebrigen Reste des Preisschilds blättern ab, und ich spiele daran herum. Ich fühle mich hilflos und am Ende. Die Lieder gehen mir zu Herzen.
Das tote Mädchen, das sie in Preston Hollow am Straßenrand gefunden haben, ist nicht Evie. Das tote Mädchen ist irgendeine andere Dreizehnjährige, die von einem Auto überfahren wurde, sie hat Reifenspuren auf dem Körper, mitten durch.
Das tote Mädchen ist nicht Evie, sie hätte es aber sein können.
Wieso war mir das nicht klar gewesen?
Mr. Verver fährt sich über das stoppelige Kinn.
Ich sitze neben ihm auf dem geknüpften Läufer und drücke mir die Plattenhülle an die Brust.
Wir haben schon seit einer Weile nichts mehr gesagt, als Mr. Verver mich plötzlich fragt: »Redest du viel mit deinem Dad, Lizzie?«
Ich sehe ihn an und fühle mich, als wäre mir jemand mit dem Finger das Rückgrat hinaufgefahren.
»Klar«, sage ich und stütze das Kinn auf die scharfe Kante des Plattencovers. Eigentlich fragt mich kaum noch jemand nach ihm. Aber das hat auch schon vor der Scheidung keiner getan. Sonntags war er zum Abendessen da, und wenn es sehr kalt war, hat er mich zur Schule gefahren. Da gab es nicht viel zu erzählen. Mittlerweile gibt es eben noch weniger.
Er sieht mich nicht an. Er starrt irgendetwas anderes an, etwas Unsichtbares in den Tiefen der Waschküche.
»Weißt du … weißt du, wie es ist, Vater zu sein, Lizzie?«
Ich sehe ihn an und warte.
»Wie denn?«, frage ich schließlich. Ich glaube, sogar zweimal.
»Es ist das Beste, was einem passieren kann«, sagt er
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