Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
und dreht sich zu mir. Er sieht mich erwartungsvoll an, blinzelt und lässt es wirken.
Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, und nicke. Ich nicke und nicke und nicke.
Er lächelt, seine Augen sind feucht und voller Trauer.
Die Musik dröhnt, und ich würde am liebsten in hysterische Tränen ausbrechen. Nicht aus Traurigkeit, sondern weil irgendwie alles auf einmal geschieht, und ich weiß nicht einmal genau, was.
Mr. Verver trinkt einen letzten schaumigen Schluck aus der Flasche.
Ich sehe es ihm an: Er sagt, alles, was ich weiß, weiß ich von dir. Kannst du mir nicht noch mehr erzählen? Er spricht es nicht aus, aber ich kann es hören, es klingt in mir. Erzähl mir noch etwas, Lizzie.
Das Telefon klingelt, Mr. Verver läuft die Treppe hinauf. Es ist die Polizei. Ich weiß, dass sie noch einmal alle Bekannten von Mr. Shaw vernommen haben. Mr. Verver telefoniert sehr lange und macht sich hektisch Notizen.
Ich winke ihm beim Rausgehen zu, aber er sieht mich nicht.
»Dusty!«, sage ich erschrocken, als ich die Küchentür öffnen will.
Sie hat eine Reisetasche über einem Arm, die Büchertasche über dem anderen, ihre wuschligen Haare sind zu einem strammen Zopf gebunden.
»Hey«, sagt sie, »hast du mich erschreckt.« Sie sieht aber gar nicht erschrocken aus.
Alles wirkt falsch herum, wie sie dasteht und darauf wartet, dass ich sie hereinlasse.
»Da bist du ja wieder«, sage ich, etwas anderes fällt mir nicht ein.
Ich sehe sie an, und mir gehen eine Million Gedanken durch den Kopf, sie steigt in Bobby Thornhills Auto, sie will, dass er ihr zeigt, wie man …
Sie geht an mir vorbei in die Küche.
»Ja, da bin ich wieder«, sagt sie und bemerkt ihren Vater, der immer noch telefoniert, sie hört sein Aha, hm, glauben Sie, es könnte – meinen Sie, wir sollten – was, wenn er – okay, okay … Konnten die denn etwas mit dem Hinweis aus Iron River anfangen?
Eine Sekunde lang betrachtet sie ihn, dann hebt sie ihre Büchertasche auf.
»Kann ich irgendwie helfen?«, frage ich.
»Das tust du doch schon, oder?«, sagt sie. »Deshalb bist du doch hier?«
Sie wirft mir die Büchertasche zu. Ich fange sie auf, obwohl ich nicht recht weiß, was ich damit machen soll.
»Ist deine Mutter nicht mitgekommen?«, frage ich.
»Sie bleibt noch ein bisschen bei meinen Großeltern«, sagt sie und zieht sich das Haargummi aus dem Zopf, sodass ihr Haar ihr über die Schultern fällt. »Sie hält es hier nicht aus.«
»Das ist echt hart«, sage ich, »nichts zu wissen.«
Dusty fächelt sich Luft zu und löst ihre verschwitzten Haare vom Nacken.
»Du bist auf einmal ständig hier«, sagt sie endlich und spielt mit einer Haarsträhne.
»Hm«, mache ich, das Kinn an der schweren Tasche in meinem Arm.
Es ging unser ganzes Leben lang um Dusty. Evie und ich haben über sie getuschelt, spekuliert, uns Dinge ausgedacht, sie uns vorgestellt. Haben sie belauscht, vom oberen Stockwerk aus und vom unteren.
Für sie muss jetzt alles anders sein. Wer lauscht denn jetzt noch nach ihr?
»Was würde er nur ohne dich machen«, sagt sie. »Was würden wir alle ohne dich machen.«
Ihre Stimme klingt manchmal so kalt, dass es mir durch und durch geht. Ich fürchte, dass sie wieder mit der Sache mit der Milchklappe anfängt. Es gibt doch viel bessere Verstecke, sein Auto zum Beispiel …
Es kommt mir vor, als würde sie mir jede Lüge ansehen, sogar die, die gar keine sind.
»Du kommst ja gar nicht mehr nach draußen«, sage ich schnell, bevor ich den Mut verliere. »Früher warst du immer im Garten, mit deinem Vater.«
Sie weiß, was ich damit sagen will. Sie weiß, dass ich sagen will: Du hast ihn im Stich gelassen. Ich nicht.
Sie sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. Ich bekomme eine Gänsehaut, und mir wird kalt. Wären wir auf dem Spielfeld, würde ich die Augen schließen und mich auf einen Angriff von ihr einstellen.
Schließlich sagt sie: »Geh doch nach Hause.« Sie macht sich das Gummi wieder ins Haar. »Ich glaube, deine Mutter ruft gerade.«
Spät nachts merke ich, wie sich in mir etwas zusammenbraut, dass mir das Blut ins Gesicht rauscht, in die Brust, wie Eisen in meinen Adern, meinem Herzen.
Es liegt an diesem Tag, den ich mit Mr. Verver im Keller verbracht habe, an den Dingen, um die er mich gebeten hat, auch wenn er es nicht ausgesprochen hat, auch wenn ihm vielleicht nicht richtig klar ist, was er von mir will. Und Dusty, Dusty, die mich umkreist und Dinge über mich weiß, und ich habe das Gefühl,
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