Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
sagen. Es tost in ihm, das sieht man, und er weiß nicht, wie er es sagen soll, wie er sich verständlich machen soll.
Als er anfängt, fängt er mitten drin an, und ich merke, dass es ein Gespräch ist, das er im Kopf den ganzen Tag führt, die ganze Nacht. Das sagt er:
»Er ist nachts immer lange spazieren gegangen. Mein Vater. Und ist rumgefahren. Er hat gesagt, ›ich fahre mal ein bisschen rum‹, und wir wussten nie, wohin er fährt. War uns auch egal. Er wohnt hier, klar, aber manchmal kommt es mir vor, als wäre er nie hier gewesen. Nur ein Schatten in unserem Haus. Am Kopfende des Tischs. Und in seinem Sessel, Fernseher an, Nachrichten und irgendwelche Spielshows – du heißt Lizzie, oder?«
Die Frage erschreckt mich, ich zucke fast zusammen. »Ja«, sage ich.
»Lizzie«, sagt er und hockt sich vor mich hin, direkt vor mich, mir kribbelt alles. Fast kann ich seinen Atem spüren, mir zittern die Beine, aber ich habe keine Angst, wirklich nicht. Er ist nur, er ist …
»Plötzlich ist alles anders«, sagt er. »Alle stellen Fragen, die Schulpsychologin und so, ob es mir gut geht. Aber er war nie wirklich hier. Wir waren immer nur ich und meine Mutter. Manchmal habe ich das Gefühl, ich hatte ihn schon vergessen, bevor er verschwunden ist. Er war wie ein Gespenst, das hier spukt, schon mein ganzes Leben.«
Ich sehe zu ihm hinunter und spüre die nackte Haut unter meinem T-Shirt, und er hat die Hände auf die Armlehnen meines Stuhl gelegt, er sagt so große Dinge, und die Luft um uns glitzert, all die Lichter von den summenden Elektrogeräten. Mir wird davon ganz heiß im Gesicht, und wie er mich ansieht, mit seinen dunklen, sumpfigen Augen, das macht mich alles ganz schwummerig.
»Und jetzt ist er weg, und plötzlich dreht sich alles um ihn«, sagt er. »Er hat meiner Mutter nie irgendwas gegeben, und jetzt hinterlässt er ihr so was.«
Plötzlich greift er nach meinen Beinen, hat meine Oberschenkel in den Händen und ich denke, passiert das wirklich und es passiert zu viel auf einmal.
»Lizzie, ich hatte gehofft, dass du noch mal kommst, weil ich es dir sagen will. Ich habe dich da draußen gesehen, und du bist die Einzige, der ich es sagen kann«, sagt er, seine Fingerknöchel werden weiß an meinen Beinen, an seinem Hals treten die Adern hervor.
»Du hast mich hier gesehen?«, frage ich.
Er nickt. Ich stelle mir vor, wie er mich vom Fenster aus beobachtet hat, wie er den stockfinsteren Garten überblickt hat. Was hat er gesehen, einen Igel, ein Höhlentier mit Zweigen im Haar und Grasflecken auf den Knien?
»Später habe ich gehört, wie du die Zigaretten gefunden hast«, sagt er. »Nicht zu fassen, dass die Bullen die nicht gefunden haben.«
Ich bekomme einen ganz trockenen Mund.
»Keine Sorge«, sagt er. »Ich sage keinem was. Ich bin ja froh, dass du sie mitgenommen hast. Dadurch ist alles in Gang gekommen. Und da hatte ich eine Idee.«
»Was …«, sage ich verwirrt.
»Er ruft sie an«, sagt Pete und macht eine Pause, damit das bei mir ankommen kann. Aber ich bin viel zu angespannt.
»Es ist, als wäre er nach zwanzig Jahren plötzlich zum Leben erwacht und würde tatsächlich mit ihr sprechen wollen. Jetzt will er ihr plötzlich von sich erzählen und will, dass sie es versteht. Weil er ihre Hilfe braucht.«
Mein ganzer Körper ist zum Zerreißen gespannt, ich versuche, mich nicht zu bewegen. Ich weiß, dass jetzt etwas kommt, dass er mir etwas in die Hand geben wird, das wird er doch?
»Er ist überzeugt, dass sie unser Telefon abhören«, sagt er und seine Finger drücken mir ins Fleisch. »Tun sie vielleicht auch. Hoffentlich. Also ruft er sie bei der Arbeit an, sie arbeitet ehrenamtlich im Seniorenzentrum. Und sie sagt es der Polizei nicht. Sie lügt sie an. Dass er nach Kanada ziehen will und all das, das hat sie sich alles ausgedacht. Sie schickt sie in die falsche Richtung.«
Ich klammere mich an den Armlehnen fest. Ich bin hier, um etwas zu empfangen. Er hat gewartet, eine Zange um sein Herz. Das Gefühl kenne ich, das kenne ich.
Es kommt, es kommt. Eine große Enthüllung. Meine Aufgeregtheit beschämt mich.
»Gestern kam sie in mein Zimmer«, sagt er und lässt endlich meine Beine los. Ich spüre seine Hände aber immer noch, jeder Finger hat einen heißen Abdruck hinterlassen.
»Sie hat mich gefragt, wie viel Geld ich gespart habe«, sagt er und zeigt auf seine Kommode. Ich drehe mich um und sehe einen grünen Glasboden dort stehen. Der untere Teil eines Sparschweins,
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