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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Abbott
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Hände vor den Mund geschlagen.
    Sie sieht zur Straße, und ich folge ihrem Blick.
    Es ist unheimlich, die Dunkelheit vor der Dämmerung undurchdringlich, um die Straßenlaternen schwirren Motten und Käfer, und meine Augen gewöhnen sich nur langsam daran. Ich kann nicht erkennen, warum Mrs. Verver so schreit, bis ich es auf einmal doch sehe.
    Bis die gespenstische Gestalt in den Lichtkegel einer Laterne humpelt.
    Ein Geist mit weißen Beinen und blauen Fußballshorts.
    Jetzt renne ich, meine sommerharten Fußsohlen trommeln auf den glitzernden Asphalt, wie bei dem Spiel, das wir als Kinder gespielt haben.
    Ich kann unseren Singsang fast hören, zehn Uhr, elf Uhr, zwölf Uhr, Mitternacht! MORD!
    Und ich will schreien, meine Lunge explodiert, Home Base, Evie! Hier, Evie! Es ist hier, du musst nur die Tür berühren, den Rasen, den Bordstein! Glaub mir, es ist hier!
    Ich höre mich schreien.
    Ich schreie, und ich kann nicht aufhören.
    Ich renne, renne, meine Arme holen weit aus.
    Ich bin fast da, fast da, nur noch ein paar Meter entfernt von dem Lichtklecks unter der Laterne, als mich auf einmal jemand festhält, und es ist Mrs. Verver, ihre Arme stoßen mich zur Seite.
    Ich falle fast hintenüber, fange mich aber wieder.
    Ich presse mir die Hand aufs Herz, als Mrs. Verver die geisterhafte Gestalt in die Arme nimmt.
    Und ich betrachte die Leere im Gesicht des Geists.
    Eine Leere, die mir durch und durch geht.
    Aber das ist doch nicht Evie, sage ich mir, und denke: Das ist ein Traum, und das ist ein Geist, ein Phantom. Ein Trick.
    Es ist kein Traum, aber es kann auch nicht Evie sein.
    Ich starre die hellblonden Haare an, die ihr strähnig ins Gesicht hängen, ihre seltsame Textur, wie weiche Watte.
    Das fremde Sweatshirt, graues Fleece, an den Ärmeln zerrissen.
    Diese seltsame Röte in ihrem Gesicht, und wie steif ihre Arme herunterhängen. Ihre Finger, die Nägel eingerissen und blutunterlaufen.
    Mrs. Verver, sie schluchzt und kniet auf dem Boden und hält das Mädchen fest, hat ihm die Arme um die Taille geschlungen, und das Mädchen sieht erschreckt aus, verunsichert. Sie dreht den Kopf und sieht mich an, ihr Kopf wackelt ein wenig, wie der einer Puppe.
    Sie sieht mich an, und ich sehe sie an.
    Die Augen, diese Augen wie Ölflecken in einer Regenpfütze. Diese Augen, die ich besser kenne als meine eigenen. Diese Augen, die auf mir ruhen und sich in mich hineinbohren.
    Oh, Evie.
    Oh, Evie.
    Ein warmes Gefühl steigt in mir auf.
    Ich lächle.
    Ich berühre mein Gesicht mit den Händen, betaste meine Wangen, und tatsächlich, es ist ein Lächeln.
    Das ist wahrscheinlich das seltsamste Lächeln der Welt, aber es hört gar nicht mehr auf, und ich schüttele den Kopf und lächle und kann nicht aufhören.
    Und sie sieht mich an und etwas bewegt sich in ihr, der Anflug eines Grinsens, und ich greife danach.
    Ich greife wortwörtlich mit der Hand danach, nach ihrem erhitzten Gesicht unter meinen Fingern.
    »Evie«, sage ich. Ich sage: »Evie.«
    Mrs. Verver hebt sie hoch, obwohl sie selbst nicht viel größer ist als Evie. Sie nimmt sie auf den Arm und will sie ins Haus tragen, da kommt Mr. Verver auf uns zugerannt.
    Ich bleibe stehen und halte mir die Augen zu.
    Ich weiß nicht, wieso, aber ich kann nicht hinsehen.
    Als ich die Augen wieder aufmache, ist Mr. Verver schon zwanzig Meter vor mir, er trägt sie jetzt, er hat Evie auf dem Arm wie damals, als sie sechs Jahre alt war und Dusty sie zu sehr geschubst hat und sie vom Klettergerüst gefallen ist.
    Er trägt sie, und ich gehe mit einigem Abstand hinterher, und Mrs. Verver läuft neben ihm her und versucht Schritt zu halten. Sie greift nach ihr, kratzt an seinem Arm, fährt ihr über die komischen blonden Haare.
    Ich folge ihnen die Straße hinunter und bleibe auf dem Gehweg vor ihrem Haus stehen.
    Dusty steht auf der Veranda, das Gesicht hinter ihren wuschligen Haaren versteckt.
    Ich sehe zu, wie es passiert.
    Sehe dem wippenden blonden Schopf zu, den blassen Beinen, die wie kahle Äste baumeln. Ich sehe zu, wie Dusty zurücktaumelt, und Mr. Verver sich an ihr vorbeischiebt, sich an allem vorbeischiebt und Evie wie eine Braut über die Schwelle trägt.
    Ich sehe sie alle in der Dunkelheit ihres Hauses verschwinden.
    Ich sehe, wie Dusty herumwirbelt, ihr Gesicht rot und entgleist, und die Tür hinter ihnen schließt.
    Ich stehe dort, glaube ich, noch eine ganze Weile, warte darauf, dass sich mein Herzschlag beruhigt, warte darauf, wieder zu Atem zu kommen. Warte noch

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