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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Abbott
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auf etwas anderes, aber es kommt nicht.
    »In ein paar Stunden fahre ich dich zum Krankenhaus«, sagt meine Mutter. »Erst mal brauchen sie ein bisschen Zeit.«
    Wir stehen auf unserer Veranda, meine Füße sind taufeucht.
    Die Schlaflosigkeit macht mir nichts aus, ich fühle mich so wach wie nie zuvor, und der leichte Nebel im Morgengrauen ist genau richtig.
    »Okay«, sage ich, habe aber nicht vor zu warten. Sobald sie hochgeht und duscht, werde ich mich aufs Fahrrad setzen und die drei Meilen zum Krankenhaus fahren.
    »Lizzie«, sagt sie, und legt mir die Hand auf die Schulter. »Ich …« Ihre Stimme wird schwach und bricht ab. »Ich glaube, ich habe einfach nicht mehr daran geglaubt.«
    Ich lasse meinen Fuß vor und zurück über den Beton schrammen, es brennt herrlich, ich fühle mich lebendig.
    »Ich glaube, ich bin davon ausgegangen, dass sie nicht mehr wiederkommt«, sagt meine Mutter, legt mir den Arm um die Schulter und drückt mich an sich.
    »Weiß ich«, sage ich. Warum sollte ich zugeben, dass ich das auch mal gedacht habe?
    »Irgendwie«, fängt sie wieder an, und ihre Worte klingen fremd, wie im Halbschlaf, als ob sie etwas sagt, das sie sonst nie aussprechen würde, »irgendwie habe ich immer damit gerechnet, dass ihnen so etwas passiert. Den Ververs.«
    »Was meinst du?«, frage ich schroff.
    »Ich weiß auch nicht, sie haben so was …« Sie wird fast rot, als ob sie nackt überrascht worden wäre. Sie kann mich nicht richtig ansehen.
    »Ich weiß auch nicht. Als ob irgendwann einfach was kaputtgehen musste. Das konnte ja nur eine bestimmte Zeit gut gehen, dann musste etwas zerbrechen.«
    »Das ist doch Quatsch«, sage ich und ignoriere das kurze Zucken in mir. »Echt Quatsch.«
    Ich trete in die Pedale, so schnell ich kann, die Fahrt zum Krankenhaus ist atemlos, alles verschwimmt, meine Lunge schmerzt.
    Ich muss immer wieder an das Silberblond von Evies Haaren denken, ihre erschrockenen, wissenden Augen.
    War sie es überhaupt?
    War das wirklich Evie, die da zurückgekehrt ist?
    Oder habe ich das nur geträumt, es durch Wünschen und Sehnen heraufbeschworen?
    Die ungewohnte, unheimliche Leere der feuchten Straßen und der metallische Geruch des frühen Morgens geben mir das Gefühl, ich wäre vergessen, aus der Welt gewischt worden.
    Als ich durch die Schiebetür gehe, fürchte ich geradezu, dass mich niemand erkennen wird. Dass ich durch die Flure gehe, an sämtlichen Ververs vorbei, als wäre ich unsichtbar, ein flüchtiger Schatten.
    Es dauert jedoch nur Sekunden, bis Mr. Verver mich entdeckt, er sieht mitgenommen aus und kämpft mit Formularen und seinem Handy und Dusty, die sich an ihn klammert und sich die Haare rauft.
    Er strahlt so, dass es mich fast blendet.
    Die Bartstoppeln, Schmutzstreifen auf seiner Hose, sein erhitztes, gerötetes Gesicht, das ist alles egal, er kümmert sich nicht darum.
    Er ist wieder heil.
    Wir haben ihn wieder heil gemacht, denke ich, und wundere mich dann über das »wir«.
    Ich war das, ich, ich.
    »Lizzie ist da!«, sagt er, drückt sich das Klemmbrett mit den Formularen an die Brust, ans Herz, wie einen Ritterschild, und Dusty dreht sich zu mir um, und ihr Blick ist so undurchschaubar wie immer.
    Mich trifft kurz der Gedanke, was sie wohl gerade fühlt, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich habe keine Zeit.
    Ich renne auf Mr. Verver zu, der die Hände nach mir ausstreckt und mich halb umarmt, in der Rechten immer noch das Klemmbrett, das mir gegen den Kopf schlägt.
    »Oh Lizzie«, sagt er. »Lizzie, sie ist wieder da. Sie ist wieder da, und es geht ihr gut.«
    Ich glaube, das sagt er, aber ich bin mir nicht sicher. Die nächsten Minuten sind ein einziges Durcheinander, und er erzählt mir alles Mögliche und sagt, dass Mrs. Verver Evie nicht von der Seite weicht, und dass sie noch ein paar Untersuchungen machen, aber dass alles gut ist, und dass Evie stark ist, und dass es Evie gut geht.
    »Es geht ihr gut«, stimmt Dusty ein. »Es geht ihr super, und alles ist vorbei. Es ist zu Ende. Sie ist wieder da, und es ist vorbei.«
    Sie sagt es in diesem barschen Tonfall, in dem sie immer mit mir redet, und mit ihrer Mutter, mit jedem außer ihrem Vater.
    Aber es wirkt falsch, und ich muss die ganze Zeit an das denken, was sie zu mir gesagt hat, an das, was Dusty weiß, oder was sie zu wissen glaubt.
    Ach Lizzie, sie wusste es. Sie wusste, dass er sie holen würde.
    Mr. Verver legt das Klemmbrett beiseite, sein Handy, alles, was er in der Hand hatte, und legt

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