Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
kann ihm das nicht sagen. Was seine Tochter ihm angetan hat. Was sie uns allen angetan hat. Wie sie uns alles kaputt gemacht hat. Ich kann ihm das alles nicht erzählen.«
Mir stockt der Atem. Ich verstehe sie: Evie hat ihm das Herz gebrochen, sagt sie, aber ich werde das nicht tun.
»Willst du sie denn nicht retten?«, frage ich sie schließlich.
»Lizzie«, antwortet sie und sieht mir in die Augen. »Wie kommst du denn darauf, dass sie gerettet werden will?«
Ich sitze lange auf der Veranda hinter unserem Haus, die Gedanken schießen in meinem Kopf wild durcheinander.
Manches von dem, was Dusty gesagt hat, wusste ich schon, trotzdem fühle ich mich, als wäre mein Kopf explodiert. Es ist ein Riesenunterschied, ob man etwas tief in sich drin irgendwie ahnt, oder ob man es in harten, kleinen Silben von Dusty um die Ohren gehauen bekommt.
Manchmal, abends, steht er da draußen. Das hatte sie zu mir gesagt. Ich habe das niemandem erzählt. Warum nicht?
Was hätte ich sagen sollen? Evie hat selbst gesagt, es wäre bestimmt ein Traum, es wäre alles verwirrend, wie ein Traum.
So was erzählt man doch niemandem.
Evie hatte es mir anvertraut, und nachdem ich erfahren habe, dass Mr. Shaw sie heimlich so heftig liebte, kann ich mir vorstellen, dass Evie davon gerührt war. Warum hätte sie Angst haben sollen? Es kommt mir nicht besonders komisch vor, dass sie davon wusste und nichts gesagt hat. Dass sie ihre privatesten Gefühle für sich behalten hat. Evie, hinter der nie viele Jungs her waren, die nie umschwärmt wurde. Die nie groß was mit irgendwem hatte.
Aber die Vorstellung, dass die beiden Schwestern ihn Nacht für Nacht gesehen haben. Ein Geheimnis zusammen hatten. Das tut mir weh. Dass Evie es Dusty anvertraut hat, und mir nicht. Dusty, die sonst immer außen vor war, und trotzdem hat Evie sich ihr anvertraut.
Aber wenn ich bedenke, was Dusty gesagt hat, überrascht mich das alles irgendwie auch nicht. Kommen noch mehr Überraschungen?
Später, im Bett, höre ich Dr. Aikens Stimme vom Ende des Flurs her, ruhig und tief. Ich verstehe ihn nicht, aber es liegt so eine Gelassenheit darin, eine Ruhe. Irgendwie bin ich dankbar dafür. Ich hoffe, dass er noch lange so weiterredet, und das tut er auch. Davon schlafe ich endlich ein.
Im Traum klingelt das Telefon neben mir. »Lizzie«, summt eine Stimme in meinem Ohr.
Und ich weiß, es ist Evie, so wie man die Dinge im Traum eben weiß, obwohl es überhaupt nicht wie Evie klingt, sie klingt hoch und zittrig, wie eine Aufziehpuppe.
»Ich weiß nicht, wo ich bin«, sagt sie, »und alles ist voller Blut.«
»Evie«, flüstere ich, als würde ich ihr ein Geheimnis erzählen, von dem keiner wissen darf. »Wo bist du? Sag schon. Sag.«
»Ich weiß nicht«, sagt sie und klingt ganz klein, wie wenn sie in Mathe an die Tafel muss und etwas sagen soll.
»Wo bist du?«, frage ich noch einmal, und es dröhnt mir in den Ohren. »Ist es weit weg?«
»Lizzie, es hat einfach nicht aufgehört zu bluten. Ich habe drei Handtücher gebraucht.«
»Evie, bitte, wo bist du?«, schreie ich in den Hörer.
»Ich weiß es nicht«, sagt sie und atmet immer schneller. »Woher soll ich das wissen?«
»Evie, bist du weit weg? Ist es weit?« Und plötzlich spüre ich ein Kribbeln im Nacken, habe das unheimliche Gefühl, Evie wäre hier, direkt bei mir.
»Bist du in der Nähe?«, flüstere ich. »Evie, kannst du mich sehen?«
»Lizzie«, kommt ein Flüstern zurück, knistert in meinem Ohr. »Was hast du getan? Was hast du nur getan?«
Es ist vier, vielleicht fünf Uhr morgens. Ich kann die Leuchtziffern auf meinem Wecker nicht erkennen, dann merke ich, dass das Kabel um mein Bein gewickelt ist. Ich zerre daran und mir dämmert, dass ich den Wecker mit ins Bett gezogen habe, der Stecker ist herausgerutscht, das Ziffernblatt ist schwarz und stumm.
Ich weiß nicht, wovon ich aufgewacht bin, dann höre ich jedoch das Quietschen einer Verandatür und spähe aus dem Fenster in die Dunkelheit. Bei den Ververs steht die Haustür sperrangelweit offen.
Ich laufe die Treppe hinunter und bleibe kurz stehen.
Was hast du getan, was hast du getan, höre ich noch immer Evies Traumstimme im Ohr.
Mein Augenlid zuckt. Dann kommt das Geräusch. Das Geräusch ist laut, ein Schrei, irgendetwas kreischt, ein Tier, das unter ein Auto geraten ist und nun mitgeschleift wird. Es ist das schrecklichste Geräusch, das ich je gehört habe.
Ich renne hinaus und sehe Mrs. Verver in der Tür stehen, die
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